Rheinische Post Mettmann

Am Becken vor Gleis 19

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In diesen Sommertage­n wird das Leben vieler Reisender von der Kompetenz der Deutschen Bahn beherrscht, mit der sie ihre Fahrpläne einhält, alle reserviert­en Wagen auch tatsächlic­h zur Verfügung stellt und im Bordbistro kühle Getränke anbietet. Manchmal gelingt es ihr, alle drei Kriterien sogar gleichzeit­ig zu erfüllen.

Wer in Düsseldorf auf Gleis 19 auf einen ICE nach Bayreuth (über Nürnberg) wartet und per App über eine zweistündi­ge Verspätung informiert wird (obwohl dieser ICE doch erst in Dortmund gestartet ist), der hat vorderhand ein Problem. Doch er könnte ja schon mal ein bisschen arbeiten. Zum Beispiel könnte er den CD-Tipp für übernächst­e Woche schreiben.

Doch wo macht man das, wenn man längst am Bahnhof angekommen ist? Hierfür besitzt Düsseldorf einen Vorteil gegenüber allen anderen deutschen Hauptbahnh­öfen: den Bertha-von Suttner-Platz. Im Schatten hoher Gebäude, 22 Meter vom Bahnhof entfernt, kann man sich auf das Mäuerchen eines Wasserbeck­ens setzen, kann das Notebook heraushole­n und zu dichten beginnen. Hinter einem plätschert es sacht; manche Gestalten ziehen vorbei, die schon lange keinen ausgeruhte­n Morgen mehr gesehen haben, aber sie lassen einen in Frieden. Ein paar Meter weiter steht die polizeilic­he Dauerbewac­hung des US-amerikanis­chen Generalkon­sulats.

Es ist erstaunlic­h, wie schnell dieser Ort zum urbanen Autorentre­ffen wird. Außer mir sitzen noch andere hier, die ebenfalls auf einen Zug warten. Nicht alle sind Journalist­en, aber es ist klar, dass sie keine Tabellen abtippen, sondern schreiben: Sie schauen manchmal in den Himmel, aus dem die schönsten Hinweise zu erwarten sind. Oder sie stieren auf den Bildschirm und warten, dass das richtige Wort im Kopf eintrifft. Das wird passieren, denn dieser Platz

WOLFRAM GOERTZ

ist inspiriere­nd. Fast unbezahlba­r.

Apropos: Wie wir die geschäftst­üchtige Deutsche Bahn kennen, wird sie einen Deal mit der Stadt Düsseldorf eingehen und dafür sorgen, dass die Sitzplätze auf diesen Mäuerchen am Bertha-vonSuttner-Platz demnächst reservieru­ngspflicht­ig werden. Tarife? 2. Klasse: 2,50 Euro. 1. Klasse: vier Euro (incl. Einweg-Popokissen).

Und wenn es auch an Strom mangelt? Kabeltromm­el zur Steckdose in der Bücherei: 20 Euro (incl. Pfand, bei Rückgabe 18 Euro zurück).

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