Als der Wagen nicht kam
Es hätte eine schöne und machtvolle christliche Kundgebung werden können als Symbol des gemeinsamen Weges auf ein gemeinsames Ziel hinstrebender getrennter Wanderer, Dibelius und Bischof Conrad widersprachen zwar nicht, zerredeten den Plan aber zaghaft und angstvoll. Es könne der Kirche – wenn auch zu Unrecht – der Vorwurf gemacht werden, dass sie sich auf politisches Gebiet begebe und „Mörder „ ehre. Vor Tische las man anders. Ich ließ dann zusammen mit Lukaschek in St. Carolus ein Requiem für Stauffenberg, Moltke, Yorck und die andern anlässlich des Unternehmens des 20. Juli umgekommenen Freunde lesen, das ausdrücklich so von der Kanzel verkündet wurde. Der recht vorsichtige Pfarrer Hoppe nahm also keinen Anstoß daran, dass für die Seelenruhe von „Mördern“und Protestanten gebetet wurde. Nachmittags wurde eine weltliche Gedenkstunde im Vorhof des Gefängnisses Lehrterstraße abgehalten. In das eigentliche Gefängnis ließen uns die Amerikaner nicht hinein, ein Zeichen für die alliierte Unfreundlichkeit gegenüber den deutschen Widerstandskämpfern. Die Feier verlief mit rund dreißig bis vierzig Teilnehmern schlicht und anständig. Einer kurzen Ansprache von Friedrich Ernst, der auch nach dem 20. Juli verhaftet und verurteilt worden war, mit etwas viel Demokratie und Völkerversöhnung folgte „eine Minute stillen Gebets“.
Obschon die Pfarrer Bethge und Buchholz anwesend waren, wurde kein gemeinsames Gebet gesprochen. Es ist trostlos, dass nicht einmal für das Vaterunser dieselbe Fassung gilt, vom Ave Maria schon gar nicht zu reden. Bei den Gedenkfeiern in den späteren Jahren ist es
dann zu würdigem Gottesdienst in dem Hinrichtungsraum in Plötzensee gekommen. Die offiziellen Feiern der Stadt wurden aber rein weltlich gestaltet. Das galt sogar für die Feier der Einweihung des Denkmals im Hof der Bendlerstraße 10, dem Ort der Erschießung Stauffenbergs. Es wurde nicht etwa ein Kreuz an dieser blutigen Stätte aufgestellt, sondern eine splitternackte Jünglingsfigur von untermittelmäßigem Allerweltsgeschmack, die in keiner Weise die Größe des Geschehens, sondern nur die dubiose Geisteshaltung der Auftraggeber zum Ausdruck bringt. Die Festrede hielt Reuter, schwungvoll und pathetisch, aber ohne Substanz. Als die Sache beendet war, ist Lukaschek, damals Bundesminister, programmwidrig an das Mikrophon getreten und hat für die Verstorbenen das Vaterunser vorgebetet. Seitdem sind Lukaschek und ich nicht mehr zu den offiziellen Feiern anlässlich des 20. Juli hingegangen.
Am Sonntag, dem 22. Juli 1945, wurde um elf Uhr vormittags die erste öffentliche Kundgebung der CDU im Theater am Schiffbauerdamm unter starker Beteiligung abgehalten. Schreiber eröffnete die Versammlung, Hermes hielt das Hauptreferat und dann folgten noch ein halbes Dutzend Fünfminutenansprachen, darunter auch Lukaschek für die Vertriebenen. Ich habe mich dann in dem Parteiausschuss und den Unterausschüssen für Kultur, Recht und Vertriebene intensiv betätigt. Im Parteiausschuss traten die ursprünglichen Gründer mehr und mehr in den Hintergrund und andere Herren kamen hinzu. Die Führung der Partei geriet immer mehr in die Hand von Kaiser, nachdem Hermes von den Russen aus dem Magistrat entfernt worden war. Auf die Russen und Kommunisten musste ungebührlich Rücksicht genommen werden, nachdem man den Sitz der Partei und der Zeitung in den russischen Sektor gelegt hatte, statt das Erscheinen der übrigen Alliierten in Berlin abzuwarten. Als ich merkte, dass ich mit meinen Ansichten nicht durchdrang und da ich durch weitere Mitarbeit in den Ausschüssen der Partei nicht die Verantwortung für von mir nicht gebilligte Dinge übernehmen wollte, habe ich mich Ende 1945 nach meinem Weihnachtsgespräch mit Kaiser, in dem ich ihm noch einmal klar meine gegenteilige Auffassung dargelegt hatte, stillschweigend aus der Tätigkeit in den Ausschüssen zurückgezogen. Es zeigte sich nicht der geringste Ansatz zu einer Wiedererrichtung deutscher zentraler Staatsorgane. Für mich persönlich ergab sich daraus das Fehlen jeder konkreten Aussicht auf eine neue Tätigkeit, die bei dem Mangel an Subsistenzmitteln allmählich eine dringende Notwendigkeit wurde.
Am 26. September, Mutters Geburtstag, erschien nun bei uns in derWohnung der Colonel Mac Comsey mit der Anfrage, ob ich als Berater („consultant“) bei Omgus (Office of Military Government for Germany (U.S.)) tätig werden wolle, und zwar bei der Civil Administration Division der Militärregierung, also gewissermaßen dem Innenministerium. Entsprechend gab es noch bei Omgus die Political Division für die gesamte Führung der Politik, die Legal Division, gleich Justizministerium und so fort Abteilungen für die anderen Ressorts. Ich nahm das Angebot freudig an, denn so hatte ich endlich wieder eine geregelte Tätigkeit, die interessant und im deutschen Interesse nützlich werden konnte.
Ich habe weitgehend„Persilscheine“ausgestellt, so nämlich wurden die Auskünfte über die politische Vergangenheit im Volksmund nach dem bekannten Waschmittel bezeichnet. Ich hatte mir im Gefängnis vorgenommen, keine Rache zu üben, und habe das auch voll eingehalten und allen Schutzwürdigen geholfen. Ich habe andererseits auch nicht zur Verfolgung irgendeines Nazis das Geringste beigetragen, weil ich keinerlei Polizeiinstinkte besitze, was für einen Verwaltungsbeamten nicht das Richtige ist.
Eine große Anzahl von Beamten der Ministerialbürokratie wurde auf Grund des „automatic arrest“in einem Lager in Fürstenhagen bei Kassel, dem sogenannten Ministerial Collecting Center, gefangen gehalten, obschon für den Wiederaufbau einer geordneten Verwaltung dringend Kräfte gebraucht wurden. Das Lager wurde von den Amerikanern und Briten gemeinsam verwaltet. Ich hatte bei der Civil Administration Division schon mehrfach auf diese sinnlose Maßnahme hingewiesen und eine Einzelprüfung der Gefangenen und deren Freilassung verlangt, wenn sich keine Belastungen ergäben. Man sah ein, dass etwas unternommen werden müsse, und ich wurde beauftragt, zusammen mit einem amerikanischen Offizier des C.I.G. (Vorläufer der CIA, des amerikanischen Geheimdienstes) nach Fürstenhagen zu fahren zwecks Erstattung eines Berichts über die dortigen Verhältnisse.