Erst der Schock, dann die Erleichterung
Brandenburgs Wahlsieger Dietmar Woidke will nicht jubeln. In Dresden schlendert Michael Kretschmer erleichtert durch den Landtag.
POTSDAM Dietmar Woidke ist sichtlich erleichtert, als er um 18.25 Uhr auf die kleine Bühne im Gebäude der Potsdamer Landesbibliothek tritt. 26,5 Prozent bedeuten zwar einen Stimmenverlust von rund 5,4 Prozentpunkten für die SPD, doch der Ministerpräsident konnte mit den Sozialdemokraten wieder stärkste Kraft in Brandenburg werden. „Es war ein harter Wahlkampf. Es war eine intensive Auseinandersetzung“, sagt Woidke dann. Er grinst, doch jubeln wie seine Mitkämpfer im Raum will er nicht. „Ich bin froh, dass wir ein sehr, sehr gutes Ergebnis haben. Was mir Sorgen macht, ist das Ergebnis der AfD.“23,8 Prozent der Wähler haben den Prognosen zufolge ihr Kreuz bei der rechten Partei gemacht. Die AfD konnte um 11,6 Prozentpunkte zulegen.
Was die Sozialdemokraten an diesem Abend in Partystimmung versetzt, ist die dramatische Aufholjagd, die Woidke gelungen ist. Anfang August sahen Umfragen die SPD bei nur 17 Prozent, die AfD hingegen bei 21. Für Woidke war das niederschmetternd, er machte jedoch unbeirrt weiter. Jetzt erklärt er den Erfolg auf den letzten Metern so: „Das hat erstmal mit der Personalisierung im Wahlkampf zu tun.“Die Menschen hätten sich genauer angucken können, wer für die Führung des Landes in Frage komme.
Woidke setzte auf die Begegnung bei Bratwurst und Pils. Ein zweiter Erfolgsfaktor sei die Polarisierung gewesen, so Woidke: „Viele Menschen wollten nicht, dass die AfD stärkste Kraft wird. Das hat uns geholfen.“Vielleicht nutzten ihm auf den letzten Metern auch noch Meldungen über AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz, der einräumen musste, 2007 an einer Demo mit Rechtsextremen in Athen teilgenommen zu haben.
Woidke wird nun erst einmal durchschnaufen nach dem Wahlkampf, der Mitte Juli begann. 14-Stunden-Tage waren die Regel, fast jeden Abend besuchte er eine Veranstaltung. Woidke ist zwar bei vielen Menschen beliebt, gilt jedoch als farblos. Er hört gut zu, kann auf die Menschen zugehen und mit ihnen am Biertisch entspannt reden. Ein rhetorisches Genie ist er aber nicht, seine Wahlkampfrede riss kaum jemanden vom Hocker. Und Woidkes Wahlspruch „Ein Brandenburg“kam nicht überall gut an.
Zu unterschiedlich ist das Land, das sich von der strukturschwachen Uckermark im Norden bis zum Touristenmagneten Spreewald im Süden erstreckt. Mittendrin liegt Berlin, in das viele Brandenburger pendeln. Das Land ist gespalten.
Heike und Andreas spazieren an diesem Wahlsonntag durch Potsdam, besuchen ein Stadtfest. Ihr Kreuzchen haben sie schon gemacht, sie wohnen bei Lauchhammer in einem Dorf nahe der sächsischen Grenze. Von dort sind Potsdam und Berlin weit weg. Dresden ist viel näher. Es gibt einen Schulbus, ansonsten keinen öffentlichen Nahverkehr. Fachärzte auch nicht. Und in Dresden sehen es die Praxen nicht gerne, wenn auch noch die Brandenburger einen Termin haben wollen. Die 57-jährige Pflegefachkraft ist frustriert. „Wir fühlen uns abgehängt“, sagt Heike, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. Ihr Mann und sie hätten früher immer CDU und FDP gewählt. Das gehe jetzt aber nicht mehr, sagt Andreas. Er hat Sympathien für die AfD, wenn auch nicht wegen deren Migrationspolitik. „Wir haben nicht einen Flüchtling bei uns, mir haben die noch nichts getan“, sagt Heike. Aber das mit dem Nahverkehr und den Ärzten, das ärgere sie. Und Andreas fürchtet sich vor einer strengen Umweltpolitik: „Wir sind auf das Auto angewiesen.“Das müsse bezahlbar bleiben.
Für den Kellner eines italienischen Restaurants in der Potsdamer Innenstadt sind solche Probleme weit weg. Er mag Woidke. „Niemand kann zaubern“, sagt er. Aber „der Woidke“tue das, was von ihm verlangt werde. Die AfD hingegen hält er für brandgefährlich. „Die wollen nur an die Macht“, ist er überzeugt. Für die Menschen hätten sie noch nichts getan. Und die Leute, die ihnen folgen würden, seien schlicht blind. „Die verschließen die Augen vor den Faschisten“, so der Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Am Haus gegenüber hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Fuck AfD“aus dem Fenster.
Brandenburg ist nicht eins, Woidke will aber daran arbeiten. Nur mit wem? Klar ist: Für eine Fortsetzung der Koalition mit den Linken reicht es nicht. Mit den Grünen gäbe es eine Mehrheit. Woidke will nun „möglichst schnell“in Sondierungsgespräche gehen. „Die Arbeit beginnt“, sagt er. Und schiebt noch hinterher: „Feiert noch ein bisschen!“ DRESDEN Er hält Ehefrau Annett an der linken Hand, schiebt sich mit der rechten eine Mini-Brezel in den Mund und beantwortet die Reporter-Frage nach den ersten SMS-Kontakten mit SPD oder Grünen mit einem freundlichen „Nö, noch nicht“locker. Was dieses Wahlergebnis mit Ministerpräsident Michael Kretschmer macht, ist um 18.20 Uhr seiner Körpersprache zu entnehmen. Tiefenentspannt geht, nein: schlendert er von Fernsehstudio zu Fernsehstudio.
Nachdem er seinen Bundestagswahlkreis 2017 an die AfD verloren hatte, nachdem die AfD damals und auch wieder im Mai bei den Europawahlen in Sachsen vor der CDU landete, ist die Eroberung von Rang 1, das Ergebnis deutlich über 30 Prozent und der große Abstand zur AfD viel mehr, als Kretschmer noch vor wenigen Wochen in den kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte. Und deshalb ist der Jubel hoch oben auf der Dachterrasse des Landtags an der Elbe bei der CDU weithin zu hören, als die ersten Prognosen über die Fernsehschirme laufen.
Für Kretschmer ist der Erfolg nach monatelangem Wahlkampf bis zur Erschöpfung derart befreiend, dass er nur wenige Minuten braucht, um die erste Bewertung vor seinen Anhängern zu sprechen, nachdem sich der Beifall der Erleichterten gelegt hat. Sie wissen, dass es vor allem Kretschmer war, der Stimmung und Zahlen gedreht hat. In Umfragen bescheinigten ihm 68 Prozent, dass er sich mehr als andere für das interessiere, was die Bürger denken. Und die Kurve der Zufriedenheit mit seiner Arbeit ging von 59 auf 71 Prozent hoch. In Hunderten von Gesprächen hat Kretschmer das geschafft. Nach dem „ganz, ganz großen Dankeschön“an die Adresse seiner Mitstreiter kommt er zu der Schlussfolgerung, dass an diesem Abend „das freundliche Sachsen gewonnen“habe.
Die Menschen hätten gemerkt, dass sie es hier mit einer besonderen Wahl zu tun hatten. Die Landeswahlleiterin merkte es auch. Um 14 Uhr hatten schon 35 Prozent ihre Stimme abgegeben, vor fünf Jahren waren es um diese Zeit gerade mal 23. Und herausgekommen ist, so Kretschmer, eine „klare Mehrheit für die Dinge, die in der Zukunft liegen“. Die Menschen hätten verstanden, dass es nicht gleichgültig sei, wer stärkste Kraft werde, wer den Auftrag zur Regierungsbildung bekomme, wer den Landtagspräsidenten stelle. Das sei gelungen, und deshalb sei das ein „wirklich guter Tag“für Sachsen.
Unter den Mitfeiernden ist Kurt Biedenkopf, der mit freudigem Kopfnicken die Schlussbemerkung seines Nach-Nach-Nachfolgers zur Kenntnis nimmt, den von ihm begonnenen „sächsischen Weg“fortsetzen zu können. Unter den Mitfeiernden ist auch Werner Patzelt, Politikwissenschaftler und in seinem Engagement für seine Partei gebremstes CDU-Mitglied. Er wollte frühere CDU-Sympathisanten aus der AfD zurückholen. Doch Kretschmer entschied sich zu einer glasklaren Distanzierung und eindeutiger Absage an jede Art der Kooperation oder auch nur inhaltlicher Beschäftigung mit der AfD.
Eine Einschätzung von Kretschmer teilt Patzelt ausdrücklich: Dass 90 Prozent der CDU-Mitglieder nicht mit den Grünen regieren möchten. „Ich will das auch nicht“, hatte Kretschmer öffentlich erklärt – und dann hinter den Kulissen jede Menge Botschaften versandt, dass dies keine Absage an ein mögliches Bündnis sei. Schließlich ist Sachsen voraussichtlich nur mit den Grünen stabil regierbar. „Kenia“ist das am meisten zu hörende Koalitionswort auf den Fluren des sächsischen Landtages.
Häufiger auch „Genia“, die sächsische Variante von Schwarz-GrünRot. Patzelt kann verstehen, dass Kretschmer ein stabiles Bündnis lieber ist als eine wacklige Minderheitsregierung, die sich andauernd für jedes Projekt ihre Mehrheiten bei den Fraktionen suchen müsste. Patzelt sieht es von der strategischen Warte: „Sie müssen sich einfach nur vorstellen, wem ein Bündnis der CDU mit den Grünen nutzt, und wem es schadet“, empfiehlt Patzelt: Es nutze nur der AfD und schade vor allem der CDU.
Die Landtagswahlen hätten leicht auch ein anderes Ergebnis haben können. Die AfD feiert die Beinahe-Verdreifachung ihres Stimmenanteils von vor fünf Jahren jedenfalls im größten Fraktionssaal des Landtages, in dem gewöhnlich die CDU ihre Sitzungen abhält. Bundes-AfDChef Jörg Meuthen ist „glücklich“, wie er sagt. Er ist sich deshalb sicher, dass die Landtagswahlen sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg der AfD auch bundesweit noch mal einen „großen Push“geben.