Rheinische Post Mettmann

Kümmerer Kretschmer

Die CDU verdankt Michael Kretschmer den ersten Platz in Sachsen. Er war täglich auf den Straßen und Plätzen unterwegs.

- VON GREGOR MAYNTZ

DRESDEN Gefühlt waren es wohl an die 50.080 Bratwürste, die der Ministerpr­äsident seinen Sachsen seit seinem Amtsantrit­t vor 17 Monaten gebrutzelt hat, um mit ihnen bei Wurst, Brötchen und Senf in Kontakt zu kommen. Jedenfalls hat er 50.080 Sachsen mehr dazu bewegt für die CDU zu stimmen, als sich vor fünf Jahren dafür entschiede­n haben. Weil aber die Wahlbeteil­igung zugleich von 48 auf 66 Prozent stieg, rutschte Michael Kretschmer­s CDU um sieben Prozentpun­kte ab. Aber er hat mit einem Nonstop-Wahlkampf das Unwahrsche­inliche geschafft: Die AfD von dem bei Bundestags­und Europawahl­en schon erreichten ersten Platz wieder zu vertreiben – wenn es um Sachsen selbst geht.

14, 15, 16 Stunden war er täglich auf Achse. Moderne Parteistra­tegen erwarten den größten Effekt im Wahlkampf, wenn Politiker nur kurz mit Fans in Kontakt treten und die Gegner meiden, um sie nicht zu provoziere­n. Aber Kretschmer ist von Anfang an auch dahin gegangen, wo es für ihn eigentlich nichts zu holen, wo es für ihn nur auf die Mütze geben würde. Wie in Chemnitz. In normalen Zeiten hätte man einem Ministerpr­äsidenten wohl geraten, sich nicht mitten in die aufgeputsc­hte Stimmung in der Stadt zu mischen – nachdem Asylbewerb­er einen Deutsch-Kubaner beim Stadtfest am frühen Morgen des 26. August letzten Jahres niedergest­ochen und tödlich verletzt hatten.

Doch was ist schon noch normal in Sachsen, seit die AfD auf breiter Front durch die Umfragen ganz nach oben marschiert? Kretschmer war jedenfalls vier Tage nach der Bluttat mitten in der Höhle des aufgebrach­ten Löwen. Während draußen die Pro-Chemnitz-Proteste „Hau ab“brüllten, begann er mit einer Schweigemi­nute und stellte sich dann stundenlan­g den schwierigs­ten Fragen. Und zwar in einer Manier, die typisch wurde für die vielen Hundert weiteren Kontakte kreuz und quer in Sachsen. Nicht vollmundig das Blaue vom Himmel verspreche­n, nicht einfach einen Referenten bitten, das Anliegen aufzunehme­n, sondern frontal mit dem Protest Auge in Auge bestehen. „Hier darf ja keiner mehr seine Meinung sagen“– Sätze wie diese parierte er mit „Sie sagen doch gerade Ihre Meinung.“

Im Laufe dieser Sachsenges­präche zeigte sich die erste Wirkung, wenn empörte Bürger ihre Kritik mit dem Satz einleitete­n: „Ich finde das alles ganz schlimm, aber ich habe Respekt dafür, wie Sie das machen.“Das spiegelte sich auch in einer Meinungsum­frage kurz vor den Wahlen wider. 68 Prozent der Sachsen sagten: Kretschmer interessie­rt sich mehr als andere dafür, was die Bürger denken. Die Zufriedenh­eit mit seiner Amtsführun­g stieg von 59 Prozent kurz nach seinem Start auf 71 Prozent.

Damit Kretschmer in den letzten Wochen vor dem Wahlsonnta­g an der AfD vorbeizieh­en konnte, reichte das Kümmern nicht aus. Er fällte eine strategisc­he Grundsatze­ntscheidun­g, die von seinen Parteifreu­nden anfangs nur zähneknirs­chend mitgetrage­n wurde: Klare Kante gegen die AfD. Und damit verknüpft war eine Absage an den CDU-Wahlkämpfe­r Hans-Georg Maaßen, der mit der Werte-Union innerhalb der CDU am rechten Rand fischte. Wenn schon auf dem Kurs der Merkel-Nachfolger­in Annegret Kramp-Karrenbaue­r, dann auch konsequent. Zwar gratuliert­e die Werte-Union Kretschmer zum Erfolg, reklamiert­e aber umgehend einen Teil davon für sich. Also ein Maaßen-Effekt?

Wahrschein­licher ist nach den Analysen ein kleiner Görlitz-Effekt. In der sächsische­n Grenzstadt hatten sich auch Wähler von Grünen, SPD, Linken und FDP hinter dem CDU-Kandidaten versammelt, um den AfD-Kandidaten zu verhindern. Ähnliches berichtete­n die Wahlanalys­ten von der Wählerbewe­gung am Sonntag im gesamten Sachsen: Kretschmer gestärkt, AfD-Durchmarsc­h verhindert. Görlitz ist zudem nicht irgendeine Grenzstadt: Hier wurde Kretschmer geboren, hier verlor er 2017 seinen Bundestags­wahlkreis an die AfD, und hier trat er nun persönlich gegen den AfD-Politiker Sebastian Wippel an, der zuvor um ein Haar erster AfD-Oberbürger­meister geworden wäre. Und auch das direkte Kräftemess­en um das Landtagsma­ndat klappte wider Erwarten. Während die Görlitzer der AfD die meisten Zweitstimm­en gaben, gewann Kretschmer mit einem 2763-Erststimme­n-Vorsprung gegen Wippel.

Als sich Kretschmer am Montag in Berlin mit der CDU-Spitze beriet, stellt er sich demonstrat­iv an die Seite von Kramp-Karrenbaue­r, um sodann seine eigene Maxime zu betonen: Zuerst kommt das Land, dann eine Weile nichts, und dann die Partei, die Person.“

Ähnlich hat es sein Amtskolleg­e im nördlichen Nachbarlan­d, Dietmar Woidke von der SPD, gehandhabt. Auch hier lag die AfD in den Umfragen mal vorn, mal auf Augenhöhe mit der Regierungs­partei. Und auch hier rackerte sich der Regierungs­chef persönlich ab, legte allein seit Juli gut 17.000 Kilometer durch Brandenbur­g zurück, um in jeder Region Präsenz zu zeigen. Und zwar auch dort, wo AfD-Hochburgen zu vermuten waren.

Damit haben die in ihren Prozentpun­kten weiter schrumpfen­den Volksparte­ien CDU und SPD zwar noch keine Allheilmit­tel-Strategie gegen die zweistelli­g zugewinnen­de AfD gefunden. Doch zumindest wissen sie nun, dass es die Menschen honorieren, wenn sie sich von ihren Politikern ernst genommen fühlen. Ob Drei-Parteien-Konstellat­ionen für mehr Klarheit sorgen und AfD-Wähler zurückhole­n, steht auf einem anderen Blatt.

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FOTO: GAERTNER/IMAGO Politik auf Augenhöhe: Sachsens CDU-Spitzenkan­didat Michael Kretschmer während des Wahlkampfs in Stollberg.

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