Hongkonger Herbst
Die Wirtschaftsmetropole findet Geschmack an Anarchie. Im Konflikt um die Identität der Stadt erscheinen Dialog und Mäßigung immer undenkbarer.
HONGKONG Der Helikopter hängt träge in der Luft über dem Queensway im Regierungsviertel von Hongkong. Als hätte ihn jemand mit einem Magnet an den Himmel gepinnt. Angie Te rät dazu, den Schirm aufzuspannen. Er soll am Jahrestag der Regenschirmbewegung von 2014 nicht vor einem Wolkenbruch schützen. „Die haben Kameras da oben und filmen jeden, der mitmarschiert“, sagt die 25-jährige Hongkongerin. Sind es Tausende oder Zehntausende, keiner wird es heute zählen. Die Demonstration ist illegal. Die Menschen sind schwarz gekleidet. Sie zeigen durch ihre Anwesenheit, was sie von der Anordnung der Behörden halten. Alle starren in Richtung der Kreuzung von Harcourt Road und Tamar Street. Der Geruch von verschmortem Plastik mischt sich mit etwas Scharfem, Pfefferigem. In der Finsternis platzen Tränengasgranaten, Gummigeschosse peitschen durch den Qualm. Die Straßenschlacht an der Kreuzung ist hörbar, aber sie ist nicht zu sehen. Die Demonstranten auf dem Queensway halten kein Banner in die Höhe. Sie rufen keine Slogans. Sie warten stumm auf ein Signal.
Ein Schrei erklingt weit vorne, dort wo der Qualm aufsteigt. Der Marsch setzt sich wie eine Welle aus Beinen, Armen und Regenschirmen in Bewegung. Für einen Moment scheint es, als würde sie alles mitreißen und unter sich begraben. Dann erklingt ein Sprechchor: „Ein Schritt, zweiter Schritt“. Der Rückzug vor der aus Richtung der Kreuzung anrückenden Polizei findet seinen Takt.
Die Welle spült Männer und Frauen in die Shopping Malls entlang des Queensway. Te erklärt, dass die Kaufhäuser eine gewisse Sicherheit böten. Die Polizei meide den Krawall zwischen den Auslagen von Louis Vuitton oder Hermès, meint Te. Die Jurastudentin hat ihre schwarze Uniform zu Hause gelassen, trägt ein weißes Shirt und Jeans. Te ist Teil einer Gruppe, die nach jedem Wochenende für die frisch Verhafteten Anwälte sucht. Tes Ziel ist es, dass die festgenommenen Frauen und Männer so schnell wie möglich einen Rechtsbeistand haben. Sie bittet die Anwälte, beim ersten Kontakt mit ihren Klienten Fotos zu machen. Sind sie dann noch unversehrt, ist dokumentiert, dass spätere Verletzungen nicht bei den Verhaftungen geschehen sind. Die 25-Jährige zeichnet auch Aussagen von Verletzten in den Krankenhäusern auf. Sie hat eine Erklärung dafür, warum die Bewegung von 2019 auch nach drei Monaten ungebrochen scheint, während den Protesten von 2014 nach demselben Zeitraum die Puste ausging. „Die Polizei demütigt Demonstranten und macht uns jedes Wochenende nur noch wütender. Ich glaube, die Regierung will das so, damit sie den Ausnahmezustand verhängen und China um Truppen bitten kann“, sagt Te.
Handschellen, Prügel, erste Berichte über sexuelle Übergriffe auf Demonstrantinnen, all das bezeichnet die Studentin als „weißen Terror“. Einen Tag vor dem illegalen Marsch wurden Anführer der Protestbewegung von 2014 wie Joshua Wong verhaftet. Er darf nun keine Interviews mehr geben. Auch das ist für Te der weiße Terror. Warum sich der Begriff unter Hongkongs Protestierenden eingebürgert hat, obwohl die Volksrepublik China, eine rote Flagge hat, kann sie nicht erklären. Aber der weiße Terror sei der Grund, warum auf den Märschen Schwarz getragen wird. Wer der 25-Jährigen zuhört, begreift, dass sich in Hongkong das Farbspektrum auf den schärfsten Kontrast verengt hat.
Anders als 2014 duldet die Bewegung keine Anführer. Sie organisiert sich in Chatrooms, nutzt das Internet, um den Gegner auszuspionieren. Steckbriefe von Polizisten kursieren im Netz.
Dass viele Hongkonger Gewalt anders als 2014 duldeten, erklärt Te damit, dass die Regierung die Millionenmärsche zu Beginn der Proteste ignoriert habe. Erst nach den ersten Ausschreitungen habe Regierungschefin Carrie Lam das Auslieferungsgesetz auf Eis gelegt. Von der Novelle fürchten viele, dass Hongkonger Bürger künftig mit einem Bein in chinesischen Gefängnissen stehen. Die angehende Juristin findet, dass nur Demokratien ein Monopol auf Gewalt zustünde. Bürgern stünde ein Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung zu. Freie Wahlen ohne Auswahl der Kandidaten durch Peking, nichts weniger sei akzeptabel, betont die Studentin. Te spricht, als könnte Carrie Lam morgen freie Wahlen ausrufen. Als wären Lams Hände nicht gebunden durch Chinas rote Linien: Der Führungsanspruch der KP und die territoriale Integrität der Volksrepublik. „Entweder sie hören uns zu, oder sie töten uns, das hat sie auch gesagt.“
Der 17-jährige Desmond Lau ist einer der Krieger, in denen Angie Te die Speerspitze der Demokratiebewegung sieht. Oder er ist es fast. Lau steht zwar an der Front. Er vermeide es aber, Straftaten zu begehen, sagt er. Lau gibt Interviews und lässt sich fotografieren. Das ist ungewöhnlich für die „Frontliner“genannten Straßenkämpfer. Lau erklärt die Wut der Jugend in Hongkong mit immer schwierigeren Lebensverhältnissen. In einer Stadt, in denen Menschen viel Geld zahlen müssen, um wenige Quadratmeter anzumieten, gebe es keine Regierung, die Unzufriedene abwählen können für eine verfehlte Wohnpolitik. „Wir sind dazu erzogen worden, frei zu denken. Aber in unserer Stadt können wir nichts verändern“, sagt er. „Wir sind verzweifelt, weil wir nicht die Regierung haben können, die wir wollen. Und die Regierung ist verzweifelt, weil wir nicht so sind, wie sie uns haben will“, meint Lau.
Vielleicht liegt der Konflikt nicht nur darin begründet, wie Hongkong regiert wird. Die Idee einer Hongkonger Nation mit eigener Kultur vertreten Demonstranten, deren Eltern oft in den 60ern vor Maos Rotgardisten in das damals britische Hongkong geflüchtet sind. Porsch beschreibt die Hongkonger als Grenzgänger zwischen westlichen und chinesischen Werten. „Sie benutzen Facebook und das chinesische Wechat. Sie fühlen sich in der chinesischen Kultur verwurzelt, wollen sich aber nichts vorschreiben lassen. Ich glaube, sie wissen manchmal selbst nicht, was sie sind“, sagt er. Wenn es weiterhin nur Schwarz oder Weiß in Hongkong gibt, wird China diese Frage vielleicht schon in diesem Herbst endgültig beantworten.