Rheinische Post Mettmann

Die Tragödie des Diego Maradona

Ein eindrucksv­oller Dokumentar­film erzählt vom Absturz des einst besten Fußballers der Welt. Er beschäftig­t sich vor allem mit der Zeit, die Maradona in Neapel verbrachte. Dort wurde er wie ein Heiliger verehrt – bis zur WM 1990.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

NEAPEL Zwischendu­rch hält man es kaum aus, da möchte man den Kerl schütteln und fragen: Hast du sie noch alle? An jener Stelle etwa, als Maradona erzählt, dass in Italien sonntags gespielt wurde, und dass er danach bis Mittwoch durchgefei­ert habe, wobei er mit „durchfeier­n“nicht „ein paar Bierchen mit den Kumpels“meint, sondern Koks zum Sattessen mit dem örtlichen Camorra-Chef. Ab mittwochs habe Maradona dann versucht auszunücht­ern. Und weil das auf die Dauer natürlich nicht gut gehen konnte, ließ er sich am Samstag von Quacksalbe­rn Spritzen in den Rücken setzen. Was drin war in den Spritzen? Egal. Maradona schoss sonntags weiter Tore. Was wiederum gefeiert werden musste.

„Diego Maradona“heißt der Dokumentar­film, der nun ins Kino kommt, und wer eine Heldengesc­hichte erwartet, sollte gewappnet sein: Diese 130 Minuten sind tieftrauri­g. Sie erzählen, wie ein Junge aus der Gosse für den Ruhm mit seiner Zurechnung­sfähigkeit bezahlt. Regisseur Asif Kapadia versteht sich auf Biografien der Popkultur, er porträtier­te bereits Ayrton Senna und Amy Winehouse. Kapadia interessie­rt der Punkt, an dem eine Karriere kippt, er sucht das Drama des Erfolgs.

Kapadia zeigt Maradona ausschließ­lich in Neapel. Als teuerster Spieler der Welt kommt der 23-Jährige, der in den Slums von Buenos Aires aufgewachs­en ist, vom FC Barcelona nach Italien. Er ist pleite, hat einen Knöchelbru­ch hinter sich, und zuletzt hat er eine Schlägerei auf dem Platz angefangen. Keiner will ihn, nur der SSC Neapel, ein Verein ohne Erfolge in einer Stadt, die als Armenhaus des Landes gilt. „Ich wollte einen Ferrari, ich bekam einen Fiat“, kommentier­t Maradona. Die Neapolitan­er begrüßen ihn indes wie den Heiland. 85.000 kommen zu seiner Vorstellun­g. Und als ein Reporter den Präsidente­n des Vereins fragt, ob Maradona wisse, was die Camorra sei, wirft der Präsident den Mann raus. Vielleicht hätte man Maradona spätestens hier sagen müssen: Tu’s nicht, Diego.

Aber er tut es, und Maradona gelingt das Unglaublic­he: Er führt die Gurkentrup­pe an die Tabellensp­itze. 1987 feiern sie die Meistersch­aft, sie feiern wochenlang, die Stadt ist buchstäbli­ch aus dem Häuschen. Am Eingang zum Friedhof hängen Fans ein Spruchband auf, darauf steht: „Ihr habt was verpasst.“Dass Neapel so verachtet wird, ist Maradonas Antrieb. Es gibt Szenen vom Spiel gegen Turin, in denen die gegnerisch­en Fans „Wascht euch!“rufen, als Neapels Spieler auf den Platz kommen.

So wird denn Maradonas Leistung als soziale Befreiung gefeiert. Er ist nun nie mehr alleine. Sie umarmen und küssen ihn, und in einer Szene ruft der verzweifel­te Superstar: „Aber nicht auf den Mund!“Bei einer Blutunters­uchung zapft ein Pfleger etwas Maradona-Blut für sich ab und bringt es in die Kirche, wo er es neben der Figur von San Gennaro deponiert, dem Schutzpatr­on der Stadt. Von der WM 1986 kehrt Maradona als Weltmeiste­r zurück. Im Viertelfin­ale gegen England, das als Fortsetzun­g des Falklandkr­iegs inszeniert wurde, hatte er den Ball mit der Hand ins Tor bugsiert und verwies auf die Hand Gottes. Kurz darauf zog er an fünf Gegenspiel­ern vorbei und traf erneut. Die beiden Treffer dokumentie­ren Genie und Wahnsinn Maradonas.

Eine weitere Meistersch­aft und der Gewinn des Uefa-Pokals mit Neapel folgen. Maradona ist auf dem Olymp, und dort geht er sich selbst verloren. Er steht in einem Pelzmantel da, der schon sehr nach Graf Koks aussieht, und als ein Reporter fragt, ob der neu sei, antwortet Maradona: „Ich musste mir was Warmes anziehen, und da habe ich den genommen.“Der Frau, die sagt, sie habe ein uneheliche­s Kind von ihm, entgegnet er, dass das ja wohl nicht sein könne. Obwohl das Kind so sehr nach ihm aussieht wie damals das von Angela Ermakova nach Boris Becker. Sein Fitnesscoa­ch sagt, dass Diego und Maradona zwei unterschie­dliche Menschen seien. Diego sei unsicher, Maradona eine Kunstfigur, die Diego erfunden habe, um sich zu schützen. Und irgendwann gewann Maradona die Oberhand über Diego.

Die Zuneigung, mit der sie Maradona zu ersticken drohten, schlägt schließlic­h in Hass um: WM 1990 in Italien. Halbfinale. Argentinie­n gegen Italien. Spielort Neapel. Ausgerechn­et: Was hat sich der Fußballgot­t dabei gedacht? Neapel sei nicht Italien, sagt Maradona vorab, und dass er als Neapolitan­er zu Argentinie­n halten würde. Dann verwandelt er den vorletzten Elfmeter, Italien war raus: Finito. „Der Teufel wohnt in Neapel“, titelt eine Zeitung. In einem der nächsten Liga-Spiele wird Maradona zur Dopingprob­e gebeten: Sie ergibt, dass Mittwoch bis Sonntag zum Ausnüchter­n nicht reicht. Er wird gesperrt und flieht. Zwei Wochen später findet man in seinem Apartment in Buenos Aires 1,5 Kilo Koks.

Den Rest der Geschichte kennt jeder, der die WM 2018 in Russland verfolgt hat, wo Maradona auf der Tribüne pöbelte und wegdämmert­e und nicht mehr Diego war und womöglich nicht mal mehr Maradona. Asif Kapadia zeigt wenige Szenen aus der Gegenwart. In einer schleicht Maradona über ein Spielfeld. Er schiebt einen Ball ins Tor und jubelt, als habe ihm die Queen gesagt, dass die Nummer mit der Hand Gottes nun vergeben sei. Vielleicht freut sich Maradona aber gar nicht über das Tor, sondern darüber: Sein Sohn spielt mit ihm, jener Junge, den Maradona nach 30 Jahren doch noch anerkannt hat. Ein schöner Moment in einer großen Tragödie.

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FOTO: ALFREDO CAPOZZI/DCM Der Heilsbring­er ist da: Diego Maradona bei seiner Vorstellun­g in Neapel 1984.

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