Greta toll finden und trotzdem fliegen
Die meisten Menschen denken und handeln widersprüchlich, verstoßen gegen eigene Prinzipien und orientieren sich neu. Das hat mit der existenziellen Ungewissheit des Menschseins zu tun.
Es ist schon schwer, aus Menschen schlau zu werden. Da gibt es eine wachsende Zahl von Leuten, die sich ernsthaft Gedanken über das Klima und die Verantwortung des Einzelnen für die Umwelt machen. Doch die aktuellen Zahlen zum Flugverkehr zeigen deutlich, dass die Deutschen so viel fliegen wie nie. Die Zahl der Reisenden von Januar bis Juli stieg um 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Menschen applaudieren Greta und steigen in den Billigflieger. Sie schimpfen auf die Reizüberflutung in der digitalen Welt und können die Finger nicht vom Handy lassen. Sie lesen Ratgeber über professionelles Aufräumen und kaufen den nächsten Nippes für die Dekoration ihres Heims. Der Mensch denkt und handelt ambivalent.
Manchmal ist das nur Zeichen von Inkonsequenz, von oberflächlichen Stimmungsschwankungen, die einen heute so, morgen anders entscheiden lassen. Doch oft reicht die Widersprüchlichkeit tiefer – dann hat sie mit den Bedingungen des Menschseins zu tun, mit der existenziellen Ungewissheit des Daseins. „Es gibt keine letztgültige Gewissheit darüber, was der Mensch ist, und worin der Sinn seines Daseins besteht“, sagt der Soziologe Kurt Lüscher. Die Ungewissheit seiner eigenen Existenz könne der Mensch erkennen, weil er anders als das Tier hinter sich treten und sich selbst im Verhältnis zu anderen und der Umwelt beobachten kann.
Der Philosoph Helmuth Plessner nennt das die „exzentrische Positionalität“des Menschen. Weil aber der Einzelne aus der eigenen Position heraustreten und andere Sichtweisen einnehmen kann, gerät er in das innere Schwanken zwischen unterschiedlichen Positionen, in das Hin und Her der Ambivalenz. Das Ergebnis kann widersprüchliches Handeln sein. Es ist also der existenzielle Schwebezustand des Menschen, der
ihn anfällig für zwiespältige Entscheidungen macht.
Wer gerade noch ein Video gesehen hat, in dem Greta überzeugend zu Konsumverzicht aufruft, beschließt in diesem Moment vielleicht aus ehrlicher Überzeugung, künftig aufs Fliegen zu verzichten. Er sieht sich selbst als Teil einer Öko-Avantgarde, die Verantwortung für den Planeten übernehmen will. Doch im nächsten Augenblick hört er vielleicht von der aufregenden Fernreise von Freunden. Er denkt darüber nach, dass Reisen den Horizont erweitert und will zu den Kosmopoliten gehören, die sich in der Welt umtun. Und schon ist der nächste Flug gebucht.
Widersprüchliches Verhalten ist also eine Reaktion auf die Kontingenz – auf die Offenheit und Ungewissheit der Welt. Die Wirklichkeit wird von Zufällen beeinflusst, kann heute so und morgen anders erscheinen. Der Mensch ist in diese Widersprüche hineingeworfen, muss mit gegensätzlichen Optionen umgehen, kann sich dabei nicht an letztgültigen Gewissheiten festhalten. Diese Unsicherheit führt nicht nur zu widersprüchlichem Verhalten, sie kann auch Angst machen.
Und sie kann die Sehnsucht nach Eindeutigkeiten wecken, wie sie totalitäre Ideologien bereithalten. Gerade in Zeiten, da Menschen die Wirklichkeit vor allem als brüchig empfinden, haben daher identitäre Gruppierungen Zulauf. Der Einzelne kann die Ungewissheit seines Daseins als so verunsichernd empfinden, dass er seine eigene Identität zutiefst in Frage gestellt sieht. Das ist bedrohlich. Dann sind einfache Identitätsangebote verlockend. Etwa unter Bezug auf die Nation.
Ambivalenz weckt auch Unbehagen, weil sie an etwas rüttelt, das der Soziologe Zygmunt Bauman die Überlebenswaffen des Menschen genannt hat: Gedächtnis und Lernfähigkeit. „Wegen unserer Lern- und Erinnerungsfähigkeit haben wir Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung der Welt“, schrieb er in seinem Buch „Moderne und Ambivalenz“. Aus demselben Grund erführen wir Ambivalenz als Drohung. „Ambivalenz wirft die Berechnung von Ereignissen über den Haufen und bringt die Relevanz erinnerter Handlungsstrukturen durcheinander“, beobachtete Bauman. Natürlich hat die Welt zu keiner Zeit eine feste Ordnung, aber viele empfinden das, womit sie aufwachsen als so einen vermeintlich festen Halt. Wenn dann plötzlich nicht mehr gilt, was immer galt, muss der Einzelne sich neu orientieren, muss eine Haltung zur Wirklichkeit finden – und verstrickt sich möglicherweise in Widersprüche.
Doch Ambivalenz bedeutet eben nicht nur Bedrohung, sondern auch Freiheit. Wer die Widersprüchlichkeit der Welt aushält und sich selbst zugesteht, im Wandel der Wirklichkeit auch veränderte Positionen zu beziehen, kann sich durch die Reibung mit dem Neuen weiterentwickeln. „Ambivalenz kann Kreativität freisetzen“, sagt Lüscher. Das sehe man etwa in der Kunst. Gute Literatur erzählte von uneindeutigen Figuren und lasse Widersprüche zu. „Kitschige Literatur kennt keine Ambivalenzen, sie schreibt dem Leser vor, wie er das Beschriebene zu verstehen hat.“
Ambivalenz kann zu einer Haltung der Neugier verhelfen, kann so etwa dazu beitragen, dass Generationen besser miteinander zurecht kommen. Denn wer auch im höheren Alter den Nachkommenden zugesteht, dass sie andere Lebensweisen entwickeln, kann gelassener auf den Wandel reagieren. Eindeutigkeit macht starr.
Das bedeutet nicht, dass Menschen keine klare Haltung einnehmen sollten. Es gibt unumstößliche Werte, die so sehr zum Selbstbild des Einzelnen gehören, dass er sich verraten würde, gäbe er sie auf. Ambivalenztauglichkeit ist also zu unterscheiden von Prinzipienlosigkeit. Die Ungewissheit der Welt anzuerkennen, bedeutet vielmehr, mit dem nötigen Realitätssinn auf die Wirklichkeit zu blicken, dem Wandel mit Neugier zu begegnen und sich selbst mit Großmut. Der Mensch handelt widersprüchlich, weil er in die Ungewissheit geworfen ist. Er muss lernen, daran zu reifen.
Die Wirklichkeit der Welt wird von Zufällen beeinflusst, kann heute so und morgen anders
erscheinen.