Furchtbare Bilder vor Gericht
„Abscheulich, monströs, widerlich“– diese Begriffe reichen laut Richterin Anke Grudda nicht aus, um die Taten von Lügde zu beschreiben. Die Angeklagten hätten Kinder zu Sexobjekten degradiert. Und sie wollten immer neue Opfer.
DETMOLD Es sind bewegende 40 Minuten, in denen die Vorsitzende Richterin Anke Grudda das Urteil begründet. Eine kleine Kamera auf dem Richtertisch ist auf sie gerichtet und überträgt alles in einen anderen Saal. Dort sitzen Opfer mit ihren Angehörigen.
Die sonst übliche, streng juristische Urteilsbegründung erspart Grudda den Opfern und Zuschauern. Paragraphen, Beweiswürdigung, die Festlegung der Strafen für die einzelnen Taten – alles das wird sich im schriftlichen Urteil finden, für das das Gericht noch ein paar Wochen Zeit hat. Heute ist der Tag, an dem sich die beiden Angeklagten anhören sollen, was sie verbrochen haben. Und der Tag, an dem das Gericht an das Leid der vielen jungen Opfer erinnern wird.
Nach zehn Verhandlungstagen bleibe auch beim Gericht Fassungslosigkeit zurück, sagt die Vorsitzende Richterin. „Es ist schwer, das Geschehen in Worte zu fassen. Abscheulich, monströs, widerlich – diese Begriffe reichen nicht.“Das Gericht habe sich furchtbare Bilder angesehen, die man vielleicht immer im Kopf behalte. „Wir müssen es heute einmal klar beim Namen nennen. Wir sprechen von Anal-, Vaginal- und Oralverkehr, und das jüngste Opfer war erst vier Jahre alt.“
20 Jahre lang habe Andreas V. Kinder missbraucht, bei Mario S. seien es 15 Jahre gewesen. „Warum konnten diese Taten inmitten unserer Gesellschaft so lange unentdeckt bleiben?“, fragt Grudda. Eine Antwort gibt sie nicht. Aber sie sagt: „Es gab vereinzelt Hinweise, nur passiert ist nichts.“Als sich ein Mädchen seiner Mutter anvertraut habe, habe die gesagt: „Erzähl’ nicht so einen Scheiß.“Ein anderes Mädchen sei nach den Wochenenden auf dem Campingplatz immer mit einer geröteten Scheide nach Hause gekommen. „Aber die Eltern haben diese deutlichen Kennzeichen nicht erkannt.“Es sei nicht Gegenstand dieses Prozesses gewesen zu klären, wie konsequent Polizei und Staatsanwaltschaft damals Hinweisen nachgegangen seien, sagt die Richterin. „Fest steht aber, dass die Männer über Jahre ungestört ihre widerwärtigen Taten begehen konnten.“
Um 24 Mädchen und acht Jungen sei es in diesem Verfahren gegangen, die wirkliche Opferzahl sei möglicherweise höher. Eigentlich müssten alle namentlich erwähnt werden, um zu zeigen, dass hinter den Zahlen Persönlichkeiten mit Geschichten und Schicksalen stünden, sagt die Richterin. Aber natürlich nennt sie die Namen aus Opferschutzgründen nicht.
Diese Kinder und Jugendlichen hätten unermessliches Leid erfahren. Sie seien zu Sexobjekten degradiert worden und hätten körperlich und seelisch gelitten. Die Opfer stünden jetzt „vor der unfassbar schweren Aufgabe“, sich mit dem Geschehen auseinanderzusetzen und ihr Leben zu gestalten. „Vielleicht kann das heutige Urteil eine Zäsur sein, die es dem ein oder anderen etwas einfacher macht.“Andreas V. zugewandt sagt Grudda, er habe Kinder auf abstoßende Weise manipuliert. Ein Kinderparadies habe er geschaffen, so hätten es Opfer beschrieben. Mit Nachtwanderungen, Lagerfeuern, Süßigkeiten und Ausflügen habe er Kinder geködert, um sie dann zu missbrauchen. „Ein Mädchen hat ausgesagt: ,Der Tag war so schön, und am Abend hat er alles kaputtgemacht’.“Doch auch mit Drohungen, Erpressungen und Gewalt seien Kinder gefügig gemacht worden. „Ein Mädchen wurde
Richterin sogar von Andreas V. geschlagen, als es den Oralverkehr abbrechen wollte.“
Die Kinder vom Campingplatz „Eichwald“hätten Andreas V. aber nicht genügt. „Sie wollten immer neue Opfer. Sie haben mit Ebay-Anzeigen alleinerziehende Eltern gesucht, Sie haben Ihre Opfer aufgefordert, Freundinnen mit auf den Campingplatz zu bringen, und Sie haben sich im Schwimmbad an fremde Kinder herangemacht“, sagt Grudda in Richtung des Angeklagten. Auch seine heute acht Jahre alte Pflegetochter habe er als Lockvogel missbraucht.
Dieses Pflegekind sei ein besonderes Opfer gewesen, sagt Grudda. „Das Mädchen hatte keine Familie, bei der es hätte Schutz suchen können. Es hat Sie geliebt, und Sie haben das schamlos ausgenutzt. Das Kind war Ihnen schutzlos ausgeliefert.“Von den 285 Taten, die das Gericht diesem Angeklagten zurechnet, betreffen 129 Taten die Pflegetochter.
Anke Grudda sagt, manche Kinder hätten bis heute Angst vor den Tätern. „Sie fürchten, sie könnten aus dem Gefängnis ausbrechen und ihren Familien etwas antun.“Ein Mädchen habe gefragt, ob es ins Kindergefängnis müsse, wenn es etwas über Andreas V. sage. Ein anderes Kind habe der Richterin gesagt, es habe Angst davor, vor Gericht zu weinen. „Manche der Opfer haben ihr Vertrauen in Erwachsene verloren. Sie wissen nicht mehr, wer gut ist und wer böse.“
Dann dankt Grudda der Bielefelder Polizei, die es geschafft habe, von den jungen Opfern Aussagen zu bekommen. Aus den wörtlichen Protokollen der Vernehmungen ergebe sich, dass kein Kind habe sprechen wollen. „Alle haben sich geschämt. Sie sagten anfangs, es sei nichts passiert, und sie könnten sich an nichts erinnern.“Mit viel Gefühl, Empathie und Hartnäckigkeit hätten es die Beamten in oft stundenlangen Befragungen geschafft, die Kinder zu detaillierten Aussagen zu bewegen. „Die Polizei hat großartige Arbeit geleistet.“
Die unterschiedlichen Strafen begründet Grudda mit der unterschiedlichen Zahl der Verbrechen und der Tatzeiträume. „Vielen Menschen erscheint für diese Verbrechen nur die lebenslange Haft gerecht, aber die sieht das Gesetz nicht vor.“15 Jahre Gefängnis seien die höchste Strafe, aber die habe man nicht verhängen können. „Das Gesetz schreibt vor, dass wir Geständnisse strafmildernd werten müssen und auch den Umstand, dass jemand nicht vorbestraft ist.“Außerdem, sagt Grudda, wäre eine Verurteilung zu 15 Jahren Haft auch nicht im Interesse künftiger Opfer: „Wenn Täter sehen, dass es trotz eines Geständnisses die Höchststrafe geben kann, werden sie schweigen. Und das bedeutet, dass Opfer vor Gericht aussagen müssen.“
Zum Schluss sagt Grudda, an der Sicherungsverwahrung führe für beide Männer kein Weg vorbei. „Haft und Therapie werden Sie nicht ändern. Sie bleiben eine Gefahr, so hat es uns die Gutachterin schlüssig erklärt.“
„Haft und Therapie werden Sie nicht ändern. Sie bleiben eine Gefahr“
Anke Grudda