Wie Theater auf Familien wirkt
Zusammen ins Theater zu gehen, das kann Familien ein anregendes Gemeinschaftserlebnis bescheren. Zwei Familien erzählen.
DÜSSELDORF David Bowie ist schuld. Kester Elfroth (12) ist Fan, seit er in der Plattensammlung des Vaters auf Musik des Briten stieß. Als dann das Düsseldorfer Schauspielhaus „Lazarus“herausbrachte, eine Hommage an den verstorbenen Musiker, fuhr Familie Elfroth aus Mönchengladbach dorthin. „Das war so toll: die große Bühne, die Schauspieler so nah, die Musik live, da ist man so gefesselt“, schwärmt Kester. Auch Bruder Tristan (8) war wie gefangen von dieser Inszenierung, die doch eigentlich für Erwachsene gemacht ist. Vier Mal haben die Brüder das Stück inzwischen gesehen, dem Ensemble sogar mal einen Kuchen an den Bühneneingang gebracht. Doch vor allem war dieser Abend der Auslöser für die Familie, regelmäßige Theatergänger zu werden. Inzwischen haben die Elfroths zahlreiche Stücke gesehen, darunter „Hamlet“, „Kaufmann von Venedig“und „Der Sandmann“mit den Kindern. „Die Jungen sprechen immer noch tagellang von ihren Eindrücken aus dem Theater. Sie ahmen einzelne Schauspieler nach, bringen Zitate aus den Stücken“, sagt Katrin Flesser-Elfroth, „die Besuche sorgen für viel Unterhaltungsstoff, das beflügelt die ganze Familie.“
„Theater ist besonders geeignet, Austausch in Familien anzuregen, weil es ein intensives Live-Erlebnis ist“, sagt Vanessa Reinwand-Weiss, Professorin für kulturelle Bildung an der Universität Hildesheim. Kostüme, Licht, Geruch, die Nähe zu den Schauspielern, all das habe eine besondere Wirkung. „Außerdem kann aus dem Theaterraum niemand weg, die ganze Familie teilt also diese außergewöhnlichen Momente.“
Empirische Forschung, die sich mit dem Einfluss von Theatersehen oder -besuchen auf die Biografien der Zuschauer beschäftigt, gibt es bisher kaum. Die Forschung hat sich eher mit der biografischen Wirkung des aktiven Theaterspiels beschäftigt. Entsprechende Studien zeigen, dass Theaterspiel Menschen in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit einen Schub geben kann. Erst dann spricht man in der Pädagogik von Bildung – in Abgrenzung zum Lernen, das fast täglich geschieht. Beim Theaterspiel probieren Menschen am eigenen Leib andere Rollen, Lebensentwürfe und Weltanschauungen aus. Das lässt sie anders auf die Welt blicken. Laien, die Theater spielen, geben in Befragungen an, dass sie Selbstbewusstsein gewinnen, lernen, sich besser auszudrücken und sich mit Literatur beschäftigen.
„Der Bildungsprozess wird aber vor allem durch den Rollenwechsel angeschoben“, sagt Reinwand-Weiss. Und das geschehe auch, wenn man Theater ansehe. „Schon Aristoteles hat vom kathartischen Moment gesprochen. In der Antike hat man also bereits erkannt, dass der Zuschauer sich in die Gefühle und Ansichten von Figuren auf der Bühne hineinversetzt.“Diese Fähigkeit sei heute eine Schlüsselkompetenz. „Wissen ist in der digitalen Welt jederzeit verfügbar. Viel wichtiger ist, dass Menschen lernen, sich in andere hineinzuversetzen und andere Denk- und Verhaltensweisen verstehen können“, sagt Reinwand-Weiss. Das sei Voraussetzung etwa für Demokratieerziehung und die Entwicklung von Umweltbewusstsein.
Die Elfroths sind das, was man eine bildungsbürgerliche Familie nennt. Beide Eltern arbeiten selbstständig in eigenen Unternehmen, die Kinder lernen Gitarre. Damit nicht nur junge Leute aus solchen Familien die Erfahrung des Perspektivwechsels und der Empathie im Theater machen können, tritt Vanessa Reinwand-Weiss dafür ein, Theater flächendeckend als Pflicht-Schulfach einzuführen. „Das wird nicht sofort alle Theater füllen, gerade Leute, die selbst spielen, gehen oft gar nicht so viel ins professionelle Theater“, sagt sie. Aber eigene Erfahrung mit Theaterspiel könne Hemmschwellen für den Theaterbesuch senken.
Auch der Wuppertaler Kultur- und Bildungswissenschaftler Max Fuchs hält ästhetische Praxis an den Schulen für einen wichtigen Baustein, um Kinder – und mit ihnen deren Familien – an Theater heranzuführen. „Man muss lernen, ins Theater zu gehen. Man benimmt sich dort anders. Konzentration wird verlangt, wenn man Schüler zufällig einmal im Jahr dorthin scheucht, wird sie das nur abschrecken. Solche Erlebnisse müssen in kulturelle Bildung an den Schulen eingebettet sein und dazu müssen auch die Lehrer entsprechend ausgebildet werden.“
Familie Elfroth geht vor den Theaterbesuchen in Düsseldorf meist auch essen – für die Kinder sind die Kultur-Ausflüge etwas Besonderes. Mit ihrer Begeisterung hat die Familie auch schon andere angesteckt. „Wir verschenken inzwischen regelmäßig Theaterkarten, manche Leute brauchen nur so einen Anstoß, dann sind auch sie begeistert“, sagt Christian Elfroth. „Theater verlangt eine gewisse Offenheit, aber man bekommt dafür so viel Energie von der Bühne.
Ich bin nach der Arbeit schon müde ins Theater gegangen und kam total angeregt wieder hinaus.“
Allerdings ist auch in Familien, die das Theater für sich entdeckt haben, oft die Pubertät eine Klippe. Da grenzen sich Jugendliche von den Eltern ab – auch von früheren gemeinsamen Aktivitäten. Wenn Jugendliche in der Pubertät beschließen, dass sie nicht mehr ins Theater gehen wollen, seien die Möglichkeiten der Einflussnahme von Eltern begrenzt, sagt Fuchs. „Aber es gibt jede Menge literarischer Stoffe, etwa von Wedekind, Goethe, Hesse, die sich mit erwachender Sexualität, Körper, Selbstgestaltung beschäftigen“, so Fuchs. „Wenn solche Stoffe gespielt werden, wird das Jugendliche ansprechen.“
Gemeinsame Theaterbesuche können auch für erwachsene „Kinder“und deren Eltern ein guter Anlass sein, einander zu treffen und anregende Zeit zu verbringen. Bei Katrin Lohe begann es mit der Inszenierung „Gilgamesch“, die das Düsseldorfer Schauspielhaus zunächst im Theaterzelt am Ende der Kö spielte. „Es gab da einen
großartigen Moment, als die Zirkuswand sich hob und der Hauptdarsteller in die abendliche Stadt hinaustrat“, sagt Lohe (46). Das ging ihr unter die Haut. Angeregt hatte ihre Mutter diesen Theaterabend. Seither gehen Mutter und Tochter regelmäßig gemeinsam ins Schauspielhaus, stimmen gleich zu Spielzeitbeginn ihre Termine ab. „Wir sprechen oft intensiv darüber, wie wir die Stücke gesehen haben“, sagt Mutter Doris Beucker-Tönnes, „das ist eine ganz andere Qualität von Begegnung, als wenn man sich auf einen Kaffee trifft.“
Mutter und Tochter sind inzwischen aktive Mitglieder im Freundeskreis des Düsseldorfer Schauspielhauses, haben auch schon Gastspielreisen mitgemacht. „Durch die Nähe, die man zum Ensemble gewinnt, steigt auch die Achtung davor, was für eine Leistung jeder einzelne Theaterabend ist“, sagt Beucker-Tönnes. „Man entwickelt eine ganz neue Wertschätzung.“Manchmal wird auch sie gefragt, wie man andere fürs Theater begeistert. Ihr Rat: „einfach mitnehmen!“