Big Brother im Internet
Globale Internetriesen wie Google oder Facebook haben ein perfektes Kontrollsystem ihrer Nutzer geschaffen. Telekomkonzerne und Versicherungen wollen ihnen folgen. Droht der Überwachungskapitalismus?
Der Thermostat ist ein nützlicher, aber eher unscheinbarer technischer Apparat. Wenn der Internetgigant Google wie vor einiger Zeit für Milliarden eine Firma kauft und sich einverleibt, die vernetzte Thermostate anbietet, horcht die Finanzwelt gleichwohl auf. Denn der US-Konzern will damit nicht nur für wohlige Raumwärme sorgen. Google ist über seine Tochter Google Home mehr daran interessiert, personalisierte Daten über anderes intelligentes Haushaltsinventar wie Zimmerbeleuchtungen, Herd, Kühlschrank oder Hauseingangsvideos zu ziehen, die mit dem Thermostaten vernetzt sind.
Was also wie ein computergesteuertes perfektes Zuhause aussieht, ist in Wahrheit ein Datenlieferant für ein gefräßiges Monster aus der Internetwelt. So sieht es jedenfalls die amerikanische Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff. Mit ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“hat sie einen der bisher schärfsten intellektuellen Angriffe auf die aus ihrer Sicht fatale Macht der Internetkonzerne gestartet.
Die Idee mit dem Thermostaten ist nur eines der Beispiele, wie Google und andere Internetkonzerne Daten sammeln. Deren Geschäftsmodell, so Zuboff, liege darin, den Informationsmüll, den Nutzer durch ihr Verhalten zufällig produzieren, zu recyclen und zu vernetzen, dabei aber die Lieferanten über die Weiterverwendung ihrer Daten im Unklaren zu lassen. Dass die Nutzer dem zustimmen, liegt laut Zuboff daran, dass sie die Folgen nicht übersehen können. Das Such- und Kommunikationsverhalten großer Personenmengen ist jedenfalls der Rohstoff, aus dem Konzerne wie Google und Facebook Milliardengewinne machen. Zuboff nennt das Überwachungskapitalismus.
Bekannt ist, dass die Gratis-Anbieter Google und Facebook, in ihrem
Gefolge auch Amazon, Microsoft und IBM, die für ihre Dienste auch noch Geld verlangen, gewaltige Datenmengen anhäufen und diese monetarisieren. Doch dass die Konzerne die Privatsphäre ihrer Nutzer enteignen können, sie in ein Orwell’sches Überwachungssystem pressen und politische Institutionen massiv unter Druck setzen, ist neu. „Der Überwachungskapitalismus ist keine Technologie, er ist die Logik, die die Technologie und ihr Handeln beseelt“, schreibt Zuboff.
Die amerikanische Autorin zählt Google und Facebook zu den Pionieren des Überwachungskapitalismus. Sie hätten dieses Geschäftsmodell perfektioniert, andere Konzerne wie Versicherungen und Telekommunikationsanbieter würden nun nachziehen. In einem zweistufigen System beziehen die Internetkonzerne zunächst gewaltige Datenmengen. Der so gewonnene Verhaltensüberschuss von Milliarden von Nutzern stellt für diese Unternehmen ein immenses ideelles Kapital dar. In einer zweiten Stufe ist es danach möglich, durch die Anwendung künstlicher Intelligenz die Daten so anzuordnen, dass die Unternehmen daraus exakte Vorhersagen für das Verhalten ihrer Nutzer ziehen. Das lässt sich an Werbekunden, Handelskonzerne oder Sicherheitsdienste vermarkten. Nicht umsonst weisen Internetkonzerne wie Facebook (478 Milliarden Euro) und die Google-Mutter Alphabet (780 Milliarden Euro) eine überragende Bewertung ihrer Unternehmen auf. Die Nachahmer Microsoft (947 Milliarden Euro) und Amazon (816 Milliarden Euro) sind sogar noch wertvoller.
Der Datenhunger der digitalen Konzerne ist längst nicht gestillt. Die nächste Runde könnten Erkenntnisse der Biotechnologie sein, die Google, Facebook und Co. mit den bereits gewonnenen kombinieren. „Die Schlüsselfunktion dabei ist der biometrische Sensor, den Menschen am oder im Körper tragen“, meint der israelische Zukunftsforscher
Yuval Noah Harari. Das wäre das endgültige Ende der Privatsphäre.
Doch es gibt auch Gegenentwürfe. So lobt die US-Autorin Zuboff ausdrücklich die umstrittene Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union, die seit 2018 in Kraft ist. Danach dürfen im Netz tätige Unternehmen personalisierte Daten nur bei ausdrücklicher Einwilligung der Nutzer weitergeben – laut Zuboff ein Angriff auf die Macht der Internetkonzerne. Der britische Netztheoretiker James Bridle sieht eine Chance darin, die Menschen digital umfassend zu bilden. Sein Argument: Wenn die Nutzer ihre Rechte kennen und die ausreichend geschützt sind, können die Netzkonzerne sie nicht mehr verdeckt überwachen. Die Aneignung der Privatsphäre als Grundlage für ein Geschäftsmodell würde entfallen.
Allerdings widersprechen auch Ökonomen der Sicht, der Überwachungskapitalismus wäre unter dem Strich nachteilig für die Nutzer. So hat eine Gruppe um den Stanford-Ökonomen Matthew Gentzkow herausgefunden, dass jugendliche Nutzer pro Monat mindestens 100 Dollar für ihre Facebook-Dienste hinlegen würden. Das Angebot, dafür lediglich mit der privaten IP-Adresse zu bezahlen, würde den Konsumenten Hunderte von Milliarden Dollar sparen. Auch die Gießener Digital-Expertin Irene Bertschek und ihr Ko-Autor Reinhold Kesler sehen die Sammelwut von Facebook nicht so negativ. So könnten Unternehmen mit ihren Kunden über soziale Medien wie Facebook so gut kommunizieren, dass sie, so ihre Studie, deutlich mehr Produktverbesserungen und Innovationen schafften als Firmen ohne Zugang zu sozialen Medien.
Doch die Vorteile der digitalen Ökonomie sind auch ohne die anonyme Sammelwut der Internetkonzerne denkbar. Wenn die Bürger die Verfügung über ihre privaten Daten behalten, müssen sich die Netzriesen eben andere Geschäftsmodelle überlegen. Doch bisher war die Politik zu zögerlich, die Privatsphäre der Bürger vor dem ungehemmten Zugriff der Digitalkonzerne zu schützen.
US-Autorin Shoshana Zuboff lobt ausdrücklich die umstrittene Datenschutzgrundverordnung der EU, die seit
2018 in Kraft ist