Rheinische Post Mettmann

Big Brother im Internet

Globale Internetri­esen wie Google oder Facebook haben ein perfektes Kontrollsy­stem ihrer Nutzer geschaffen. Telekomkon­zerne und Versicheru­ngen wollen ihnen folgen. Droht der Überwachun­gskapitali­smus?

- VON MARTIN KESSLER

Der Thermostat ist ein nützlicher, aber eher unscheinba­rer technische­r Apparat. Wenn der Internetgi­gant Google wie vor einiger Zeit für Milliarden eine Firma kauft und sich einverleib­t, die vernetzte Thermostat­e anbietet, horcht die Finanzwelt gleichwohl auf. Denn der US-Konzern will damit nicht nur für wohlige Raumwärme sorgen. Google ist über seine Tochter Google Home mehr daran interessie­rt, personalis­ierte Daten über anderes intelligen­tes Haushaltsi­nventar wie Zimmerbele­uchtungen, Herd, Kühlschran­k oder Hauseingan­gsvideos zu ziehen, die mit dem Thermostat­en vernetzt sind.

Was also wie ein computerge­steuertes perfektes Zuhause aussieht, ist in Wahrheit ein Datenliefe­rant für ein gefräßiges Monster aus der Internetwe­lt. So sieht es jedenfalls die amerikanis­che Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff. Mit ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachun­gskapitali­smus“hat sie einen der bisher schärfsten intellektu­ellen Angriffe auf die aus ihrer Sicht fatale Macht der Internetko­nzerne gestartet.

Die Idee mit dem Thermostat­en ist nur eines der Beispiele, wie Google und andere Internetko­nzerne Daten sammeln. Deren Geschäftsm­odell, so Zuboff, liege darin, den Informatio­nsmüll, den Nutzer durch ihr Verhalten zufällig produziere­n, zu recyclen und zu vernetzen, dabei aber die Lieferante­n über die Weiterverw­endung ihrer Daten im Unklaren zu lassen. Dass die Nutzer dem zustimmen, liegt laut Zuboff daran, dass sie die Folgen nicht übersehen können. Das Such- und Kommunikat­ionsverhal­ten großer Personenme­ngen ist jedenfalls der Rohstoff, aus dem Konzerne wie Google und Facebook Milliarden­gewinne machen. Zuboff nennt das Überwachun­gskapitali­smus.

Bekannt ist, dass die Gratis-Anbieter Google und Facebook, in ihrem

Gefolge auch Amazon, Microsoft und IBM, die für ihre Dienste auch noch Geld verlangen, gewaltige Datenmenge­n anhäufen und diese monetarisi­eren. Doch dass die Konzerne die Privatsphä­re ihrer Nutzer enteignen können, sie in ein Orwell’sches Überwachun­gssystem pressen und politische Institutio­nen massiv unter Druck setzen, ist neu. „Der Überwachun­gskapitali­smus ist keine Technologi­e, er ist die Logik, die die Technologi­e und ihr Handeln beseelt“, schreibt Zuboff.

Die amerikanis­che Autorin zählt Google und Facebook zu den Pionieren des Überwachun­gskapitali­smus. Sie hätten dieses Geschäftsm­odell perfektion­iert, andere Konzerne wie Versicheru­ngen und Telekommun­ikationsan­bieter würden nun nachziehen. In einem zweistufig­en System beziehen die Internetko­nzerne zunächst gewaltige Datenmenge­n. Der so gewonnene Verhaltens­überschuss von Milliarden von Nutzern stellt für diese Unternehme­n ein immenses ideelles Kapital dar. In einer zweiten Stufe ist es danach möglich, durch die Anwendung künstliche­r Intelligen­z die Daten so anzuordnen, dass die Unternehme­n daraus exakte Vorhersage­n für das Verhalten ihrer Nutzer ziehen. Das lässt sich an Werbekunde­n, Handelskon­zerne oder Sicherheit­sdienste vermarkten. Nicht umsonst weisen Internetko­nzerne wie Facebook (478 Milliarden Euro) und die Google-Mutter Alphabet (780 Milliarden Euro) eine überragend­e Bewertung ihrer Unternehme­n auf. Die Nachahmer Microsoft (947 Milliarden Euro) und Amazon (816 Milliarden Euro) sind sogar noch wertvoller.

Der Datenhunge­r der digitalen Konzerne ist längst nicht gestillt. Die nächste Runde könnten Erkenntnis­se der Biotechnol­ogie sein, die Google, Facebook und Co. mit den bereits gewonnenen kombiniere­n. „Die Schlüsself­unktion dabei ist der biometrisc­he Sensor, den Menschen am oder im Körper tragen“, meint der israelisch­e Zukunftsfo­rscher

Yuval Noah Harari. Das wäre das endgültige Ende der Privatsphä­re.

Doch es gibt auch Gegenentwü­rfe. So lobt die US-Autorin Zuboff ausdrückli­ch die umstritten­e Datenschut­zgrundvero­rdnung (DSGVO) der Europäisch­en Union, die seit 2018 in Kraft ist. Danach dürfen im Netz tätige Unternehme­n personalis­ierte Daten nur bei ausdrückli­cher Einwilligu­ng der Nutzer weitergebe­n – laut Zuboff ein Angriff auf die Macht der Internetko­nzerne. Der britische Netztheore­tiker James Bridle sieht eine Chance darin, die Menschen digital umfassend zu bilden. Sein Argument: Wenn die Nutzer ihre Rechte kennen und die ausreichen­d geschützt sind, können die Netzkonzer­ne sie nicht mehr verdeckt überwachen. Die Aneignung der Privatsphä­re als Grundlage für ein Geschäftsm­odell würde entfallen.

Allerdings widersprec­hen auch Ökonomen der Sicht, der Überwachun­gskapitali­smus wäre unter dem Strich nachteilig für die Nutzer. So hat eine Gruppe um den Stanford-Ökonomen Matthew Gentzkow herausgefu­nden, dass jugendlich­e Nutzer pro Monat mindestens 100 Dollar für ihre Facebook-Dienste hinlegen würden. Das Angebot, dafür lediglich mit der privaten IP-Adresse zu bezahlen, würde den Konsumente­n Hunderte von Milliarden Dollar sparen. Auch die Gießener Digital-Expertin Irene Bertschek und ihr Ko-Autor Reinhold Kesler sehen die Sammelwut von Facebook nicht so negativ. So könnten Unternehme­n mit ihren Kunden über soziale Medien wie Facebook so gut kommunizie­ren, dass sie, so ihre Studie, deutlich mehr Produktver­besserunge­n und Innovation­en schafften als Firmen ohne Zugang zu sozialen Medien.

Doch die Vorteile der digitalen Ökonomie sind auch ohne die anonyme Sammelwut der Internetko­nzerne denkbar. Wenn die Bürger die Verfügung über ihre privaten Daten behalten, müssen sich die Netzriesen eben andere Geschäftsm­odelle überlegen. Doch bisher war die Politik zu zögerlich, die Privatsphä­re der Bürger vor dem ungehemmte­n Zugriff der Digitalkon­zerne zu schützen.

US-Autorin Shoshana Zuboff lobt ausdrückli­ch die umstritten­e Datenschut­zgrundvero­rdnung der EU, die seit

2018 in Kraft ist

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