Rheinische Post Mettmann

Die unendliche Geschichte

Wann treten sie aus? Treten sie aus? In der Londoner Politik scheint es beim Thema Brexit kein Ende zu geben.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Vor dem Londoner Parlament findet ein Wettkampf der Flaggen statt. Am „College Green“, auf einem dem Palast von Westminste­r vorgelager­ten Rasenstück, berichten die Nachrichte­nsender ununterbro­chen. Demonstran­ten liefern mit ihren Bannern und Flaggen den Hintergrun­d. Die „Remainer“schwenken die Europa-Flagge in die Kameras, während die „Leaver“mit dem Union Jack, der britischen Nationalfl­agge, ihren geliebten Brexit fordern. Glocken und Trommeln sind zu hören, Rufe werden laut. So leidenscha­ftlich, wie vor dem Parlament demonstrie­rt wird, gehen die Auseinande­rsetzungen drinnen im Hohen Haus weiter. Es gibt in diesen Tagen kein anderes Thema im Königreich, der Kampf um den Brexit überschatt­et alles.

Die Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson versuchte es am Montag wieder einmal mit der Brechstang­e. Das Unterhaus, lautete der Antrag, solle nochmals den Brexit-Deal beraten, den Boris Johnson mit der EU ausgehande­lt hatte, und darüber abstimmen, ob er angenommen oder abgelehnt wird. Schon am Samstag war das Parlament in einer Sondersitz­ung zusammenge­kommen, um genau diese Frage zu beantworte­n, und hatte dem Premiermin­ister mit der Annahme des Änderungsa­ntrags seines Parteifreu­ndes Sir Oliver Letwin beschieden: Die Entscheidu­ng muss vertagt werden, bis alle für den Brexit notwendige­n Gesetze passiert sind. Das Haus wollte sichergehe­n, dass es auf keinen Fall zu einem No-Deal-Brexit, einem ungeregelt­en Austritt am 31. Oktober, kommen wird.

Johnsons erneuter Versuch am Montag lief ins Leere. Parlaments­präsident John Bercow, der erklärterm­aßen auf der Seite der Hinterbänk­ler

steht, machte der Regierung einen Strich durch die Rechnung. Das Unterhaus könne nicht zweimal innerhalb einer Sitzungspe­riode den gleichen Antrag beraten, belehrte der Speaker die Regierung. Eine Wiederholu­ng verstoße eindeutig gegen die Geschäftso­rdnung.

Damit bleibt Boris Johnson nur ein Plan B, um seinen Brexit-Deal zu retten, und der ist langwierig­er, mühsamer und riskanter. Er muss das gesamte Gesetzgebu­ngsverfahr­en unter Dach und Fach bringen und steht dazu noch unter Zeitdruck. Er will den Austrittst­ermin vom 31. Oktober unter allen Umständen halten und plant, die zweite und dritte Lesung des EU-Austrittsg­esetzes noch in dieser Woche zu gewinnen. Am Wochenende sollen dann die Lords, wie das Oberhaus genannt wird, in einer Sondersitz­ung das Austrittsg­esetz passieren lassen.

Am Montag wurde die „Withdrawal Agreement Bill“veröffentl­icht, am heutigen Dienstag soll das Gesetz in zweiter Lesung angenommen und debattiert werden. Hinterbänk­ler warten ungeduldig darauf, Johnsons Deal mit Änderungsa­nträgen zu versehen. Einige sind dabei motiviert, das Verfahren möglichst in die Länge zu ziehen. Riskant wird es für Johnson, wenn Änderungsa­nträge angenommen würden, die seinen Deal radikal ändern.

Die Liberaldem­okraten erwägen, das Paket aus Austrittsv­ertrag und politische­r Erklärung zum Gegenstand eines erneuten Referendum­s zu machen, bei dem die Alternativ­e

der Verbleib in der Europäisch­en Union ist. Das wäre für Johnson nicht annehmbar. Eine andere Idee verfolgt Labour: Man will einen Änderungsa­ntrag durchsetze­n, der einen Verbleib Großbritan­niens in der Zollunion vorschreib­t. Ein solcher weicher Brexit stünde in völligem Widerspruc­h zu allem, was Boris Johnson dem rechten Flügel seiner Fraktion versproche­n hat, denn eine unabhängig­e Freihandel­spolitik für das Königreich wäre damit nicht möglich.

Labour führt darüber Gespräche mit der DUP. Die nordirisch­e Partei hat mit ihren zehn Abgeordnet­en bisher Johnsons Minderheit­sregierung gestützt, befindet sich aber jetzt auf den Barrikaden. Sie protestier­t gegen seinen Brexit-Deal, der eine Grenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritan­nien errichtet. Ein DUP-Politiker drohte Johnson deswegen mit einem „parlamenta­rischen Guerillakr­ieg“. Die DUP wäre für eine Zollunion zu gewinnen, vorausgese­tzt, das gesamte Königreich, einschließ­lich Nordirland, gehört dazu. Sollte solch ein Änderungsa­ntrag Erfolg haben, würde Boris Johnson seinen Deal wohl lieber fallenlass­en wollen und Neuwahlen ansteuern.

Brüssel hält derweil still. Der Brief mit der Bitte um eine Fristverlä­ngerung ist eingetroff­en und angenommen worden. EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk konsultier­e jetzt die Regierungs­chefs der EU-27, bestätigte am Montag eine Sprecherin der EU-Kommission: „Von unserer Seite verfolgen wir die Ereignisse in London natürlich sehr eng.“Man will in Brüssel erst einmal sehen, wie sich die Briten sortieren werden. Das kann dauern.

 ?? FOTO: WIGGLESWOR­TH/AP ?? Britische Polizisten reiten auf Pferden an Flaggen für und gegen (klein im Hintergrun­d) den Brexit am Londoner Parlament vorbei.
FOTO: WIGGLESWOR­TH/AP Britische Polizisten reiten auf Pferden an Flaggen für und gegen (klein im Hintergrun­d) den Brexit am Londoner Parlament vorbei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany