Die Geschichte der Bienen
Das Zelt war viel schwerer bewacht als der Zaun. Sie liefen ruhig auf und ab, ihre Konturen zeichneten sich scharf vor dem Stoff ab, ein merkwürdiges Schattentheater vor einem farblosen Zirkuszelt. Stellten sie eine Bedrohung dar oder einen Schutz?
Einen Eingang konnte ich nicht sehen, auch keine Fenster. Näher wagte ich mich nicht heran, ich ging lieber weiter, in einem Abstand von etwa hundert Metern, parallel zum Zelt, um die andere Seite zu sehen. Ich kam an dem Hügel vorbei, und mit einem Mal wurde mir klar, dass das Zelt ungefähr an derselben Stelle stand, wo Kuan unseren Sohn gefunden hatte. Angesichts dieser Erkenntnis verschlimmerte sich meine Angst. Meine Beine zitterten so sehr, dass sie mich kaum noch trugen. Mir wurde bewusst, wie sehr ich die ganze Zeit gehofft hatte, dass es keinen Zusammenhang gab, dass der Zaun und das Militär nichts mit Wei-Wen zu tun hatten.
Aber jetzt… Der Anruf, auf den ich gehofft hatte, die Nachricht, dass Wei-Wen lediglich gestürzt sei und sich eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen habe und auf dem Weg der Besserung sei, dass wir ihn besuchen und bald mit nach Hause nehmen könnten, all diese Gedanken erschienen mir jetzt in noch größerem Maße wie das, was sie in Wirklichkeit waren: hilflose, verzweifelte Phantasien.
Zwischen mir und dem Zelt entdeckte ich einen Stapel mit Pappkartons. Ich schlich mich näher heran, dahinter war ich vor den Wachleuten verborgen.
Einige Kartons waren zusammengefaltet, andere nicht. Ich hob einen an und spähte hinein, strich mit der Hand über den Boden, nahm den
Inhalt heraus. Erde und Reste von Wurzeln. Auf der Seite standen ein Name, eine Postleitzahl und ein Ortsname. Peking.
Ich stellte ihn wieder ab und schlich mich vorsichtig weiter. Ich fürchtete, meine übliche Tollpatschigkeit könnte mich verraten, die Zweige könnten unter mir knacken, und ich spannte jeden Muskel meines Körpers an, um mich so lautlos wie möglich voranzubewegen.
Jetzt konnte ich die Vorderseite des Zelts sehen. Ebenso weiß und undurchdringlich, jedoch mit einer Öffnung an der Seite, die von einem straffen, breiten Reißverschluss verschlossen war. Ich ging in die Hocke. Wartete. Früher oder später musste doch wohl jemand kommen oder gehen.
So saß ich, bis mir die Beine einschliefen und ich meine Position ändern musste. Der Boden war feucht, aber ich setzte mich trotzdem darauf, die nasse Kälte drang durch meine Kleider. Erst jetzt fiel mir der Stapel mit Ästen vor dem Zelt auf. Sie hatten etwa zehn Obstbäume gefällt, um Platz zu schaffen. Trockene Zweige reckten sich dem Zelt entgegen.
Nichts geschah. Mitunter hörte ich leise Stimmen aus dem Inneren dringen, ohne etwas zu verstehen. Lange saß ich so da, von Dunkelheit umhüllt. Die Minuten vergingen, wurden zu einer Stunde. Die stickige Luft machte mich allmählich dösig.
Dann: das ratschende Geräusch eines Reißverschlusses. Das Zelt wurde geöffnet, und zwei Gestalten in weißen Schutzanzügen traten heraus, sie steckten die Köpfe zusammen und diskutierten leise und eindringlich. Ich beugte mich vor, kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Das Zelt stand nur für einen kurzen Moment offen, aber ich konnte trotzdem ein wenig von dem sehen, was sich darin verbarg. Ein durchsichtiges Innenzelt voller Pflanzen. Glaswände. Blumen. Ein Gewächshaus? Leuchtend grüne Blätter, rosa, orange, weiße und rote Blüten, in gelbes Licht getaucht. Wie eine Märchenlandschaft, bunt und warm, eine andere Welt, lebende Gewächse, blühende Pflanzen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, wie es sie zwischen den einförmigen Reihen der Obstbäume nicht gab.
Mit einem Mal begann eine der Gestalten, in meine Richtung zu gehen. Ich blieb sitzen, aber sie kam immer näher.
Ich stand auf und wich leise zurück.
Die Gestalt blieb stehen, als würde sie mich wittern. Horchte. Ich wagte es nicht, mich noch mehr zu bewegen, blieb reglos stehen, in der Hoffnung, eins mit den Baumstämmen zu werden.
Auch die Gestalt verharrte noch eine Weile, dann wandte sie sich um und ging wieder zum Zelt. In dem Moment sah ich zu, dass ich wegkam, und rannte so leise ich konnte zum Zaun zurück.
Ich hatte etwas gesehen, aber ich wusste nicht, was. Den Zaun, die Kartons, das Zelt. Es ergab keinen Sinn.
Weder hier noch im Krankenhaus wollte mir irgendein Mensch das geben, was ich brauchte. Niemand wollte mir eine Antwort geben. Und auch meinen Jungen wollten sie mir nicht geben.
Schließlich erreichte ich den Zaun, kroch durch dasselbe Schlupfloch, kam an dem Wachmann vorbei. Er schnarchte noch immer auf seinem Platz vor sich hin.
Ich blieb in der milden Nacht stehen. Der Zaun thronte über mir. Doch Wei-Wen war nicht hier. Er war nicht einmal in diesem Teil des Landes. Er war dort, wo die Pflan zen herkamen. In Peking.
George
Blühende Blaubeerbüsche sind etwas Feines. Den Winter über vergaß ich das, aber im Mai, wenn mich Maine mit seinen weißen und rosafarbenen Hügeln empfing, musste ich jedes Mal staunend innehalten.
Ja, es war so schön, dass man Bücher darüber schreiben sollte. Doch ohne die Bienen waren die Blüten lediglich Blüten; keine Blaubeeren, kein Lebensunterhalt. Deshalb atmete Lee wohl jedes Mal erleichtert auf, wenn wir auftauchten. Wahrscheinlich ging er umher und bewachte seine Sträucher und wünschte, sie könnten sich selbst bestäuben und er wäre nicht so verdammt abhängig von einem verschwitzten Farmer aus einem anderen Staat und seinen ebenso verschwitzten Männern.
Drei Wochen würden wir dort bleiben. Lee bezahlte 80 Dollar pro Magazinbeute. Sauer verdientes Geld, aber ich kannte viele, die mehr verlangten. Gareth zum Beispiel. Im Vergleich zu Gareth war ich billig.
Außerdem bekam Lee einen ordentlichen Gegenwert. In jeder Magazinbeute arbeiteten 50000 Bienen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Glückliche Bienen. In jeder Beute summte es fröhlich. Er hatte nie Grund zur Klage gehabt. Seit er den Hof übernommen hatte, war ich jedes Frühjahr da gewesen, und die Bienen hatten jedes Jahr für viele Beeren gesorgt.
(Fortsetzung folgt)