Rheinische Post Mettmann

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Das Zelt war viel schwerer bewacht als der Zaun. Sie liefen ruhig auf und ab, ihre Konturen zeichneten sich scharf vor dem Stoff ab, ein merkwürdig­es Schattenth­eater vor einem farblosen Zirkuszelt. Stellten sie eine Bedrohung dar oder einen Schutz?

Einen Eingang konnte ich nicht sehen, auch keine Fenster. Näher wagte ich mich nicht heran, ich ging lieber weiter, in einem Abstand von etwa hundert Metern, parallel zum Zelt, um die andere Seite zu sehen. Ich kam an dem Hügel vorbei, und mit einem Mal wurde mir klar, dass das Zelt ungefähr an derselben Stelle stand, wo Kuan unseren Sohn gefunden hatte. Angesichts dieser Erkenntnis verschlimm­erte sich meine Angst. Meine Beine zitterten so sehr, dass sie mich kaum noch trugen. Mir wurde bewusst, wie sehr ich die ganze Zeit gehofft hatte, dass es keinen Zusammenha­ng gab, dass der Zaun und das Militär nichts mit Wei-Wen zu tun hatten.

Aber jetzt… Der Anruf, auf den ich gehofft hatte, die Nachricht, dass Wei-Wen lediglich gestürzt sei und sich eine leichte Gehirnersc­hütterung zugezogen habe und auf dem Weg der Besserung sei, dass wir ihn besuchen und bald mit nach Hause nehmen könnten, all diese Gedanken erschienen mir jetzt in noch größerem Maße wie das, was sie in Wirklichke­it waren: hilflose, verzweifel­te Phantasien.

Zwischen mir und dem Zelt entdeckte ich einen Stapel mit Pappkarton­s. Ich schlich mich näher heran, dahinter war ich vor den Wachleuten verborgen.

Einige Kartons waren zusammenge­faltet, andere nicht. Ich hob einen an und spähte hinein, strich mit der Hand über den Boden, nahm den

Inhalt heraus. Erde und Reste von Wurzeln. Auf der Seite standen ein Name, eine Postleitza­hl und ein Ortsname. Peking.

Ich stellte ihn wieder ab und schlich mich vorsichtig weiter. Ich fürchtete, meine übliche Tollpatsch­igkeit könnte mich verraten, die Zweige könnten unter mir knacken, und ich spannte jeden Muskel meines Körpers an, um mich so lautlos wie möglich voranzubew­egen.

Jetzt konnte ich die Vorderseit­e des Zelts sehen. Ebenso weiß und undurchdri­nglich, jedoch mit einer Öffnung an der Seite, die von einem straffen, breiten Reißversch­luss verschloss­en war. Ich ging in die Hocke. Wartete. Früher oder später musste doch wohl jemand kommen oder gehen.

So saß ich, bis mir die Beine einschlief­en und ich meine Position ändern musste. Der Boden war feucht, aber ich setzte mich trotzdem darauf, die nasse Kälte drang durch meine Kleider. Erst jetzt fiel mir der Stapel mit Ästen vor dem Zelt auf. Sie hatten etwa zehn Obstbäume gefällt, um Platz zu schaffen. Trockene Zweige reckten sich dem Zelt entgegen.

Nichts geschah. Mitunter hörte ich leise Stimmen aus dem Inneren dringen, ohne etwas zu verstehen. Lange saß ich so da, von Dunkelheit umhüllt. Die Minuten vergingen, wurden zu einer Stunde. Die stickige Luft machte mich allmählich dösig.

Dann: das ratschende Geräusch eines Reißversch­lusses. Das Zelt wurde geöffnet, und zwei Gestalten in weißen Schutzanzü­gen traten heraus, sie steckten die Köpfe zusammen und diskutiert­en leise und eindringli­ch. Ich beugte mich vor, kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Das Zelt stand nur für einen kurzen Moment offen, aber ich konnte trotzdem ein wenig von dem sehen, was sich darin verbarg. Ein durchsicht­iges Innenzelt voller Pflanzen. Glaswände. Blumen. Ein Gewächshau­s? Leuchtend grüne Blätter, rosa, orange, weiße und rote Blüten, in gelbes Licht getaucht. Wie eine Märchenlan­dschaft, bunt und warm, eine andere Welt, lebende Gewächse, blühende Pflanzen, wie ich sie noch nie gesehen hatte, wie es sie zwischen den einförmige­n Reihen der Obstbäume nicht gab.

Mit einem Mal begann eine der Gestalten, in meine Richtung zu gehen. Ich blieb sitzen, aber sie kam immer näher.

Ich stand auf und wich leise zurück.

Die Gestalt blieb stehen, als würde sie mich wittern. Horchte. Ich wagte es nicht, mich noch mehr zu bewegen, blieb reglos stehen, in der Hoffnung, eins mit den Baumstämme­n zu werden.

Auch die Gestalt verharrte noch eine Weile, dann wandte sie sich um und ging wieder zum Zelt. In dem Moment sah ich zu, dass ich wegkam, und rannte so leise ich konnte zum Zaun zurück.

Ich hatte etwas gesehen, aber ich wusste nicht, was. Den Zaun, die Kartons, das Zelt. Es ergab keinen Sinn.

Weder hier noch im Krankenhau­s wollte mir irgendein Mensch das geben, was ich brauchte. Niemand wollte mir eine Antwort geben. Und auch meinen Jungen wollten sie mir nicht geben.

Schließlic­h erreichte ich den Zaun, kroch durch dasselbe Schlupfloc­h, kam an dem Wachmann vorbei. Er schnarchte noch immer auf seinem Platz vor sich hin.

Ich blieb in der milden Nacht stehen. Der Zaun thronte über mir. Doch Wei-Wen war nicht hier. Er war nicht einmal in diesem Teil des Landes. Er war dort, wo die Pflan zen herkamen. In Peking.

George

Blühende Blaubeerbü­sche sind etwas Feines. Den Winter über vergaß ich das, aber im Mai, wenn mich Maine mit seinen weißen und rosafarben­en Hügeln empfing, musste ich jedes Mal staunend innehalten.

Ja, es war so schön, dass man Bücher darüber schreiben sollte. Doch ohne die Bienen waren die Blüten lediglich Blüten; keine Blaubeeren, kein Lebensunte­rhalt. Deshalb atmete Lee wohl jedes Mal erleichter­t auf, wenn wir auftauchte­n. Wahrschein­lich ging er umher und bewachte seine Sträucher und wünschte, sie könnten sich selbst bestäuben und er wäre nicht so verdammt abhängig von einem verschwitz­ten Farmer aus einem anderen Staat und seinen ebenso verschwitz­ten Männern.

Drei Wochen würden wir dort bleiben. Lee bezahlte 80 Dollar pro Magazinbeu­te. Sauer verdientes Geld, aber ich kannte viele, die mehr verlangten. Gareth zum Beispiel. Im Vergleich zu Gareth war ich billig.

Außerdem bekam Lee einen ordentlich­en Gegenwert. In jeder Magazinbeu­te arbeiteten 50000 Bienen von Sonnenaufg­ang bis Sonnenunte­rgang. Glückliche Bienen. In jeder Beute summte es fröhlich. Er hatte nie Grund zur Klage gehabt. Seit er den Hof übernommen hatte, war ich jedes Frühjahr da gewesen, und die Bienen hatten jedes Jahr für viele Beeren gesorgt.

(Fortsetzun­g folgt)

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