Die Geschichte der Bienen
Lee stürmte beinahe auf mich zu, als ich aus dem Auto stieg. Seine Arme und Beine waren spitz und knochig, seine Schuhe groß, er trug eine etwas zu kurze Hose und einen schmuddeligen Baumwollhut, streckte mir seine schmale Hand entgegen und schüttelte meine und ließ mich ewig nicht mehr los, als wollte er sichergehen, dass ich nicht wieder ging, bis ich und meine Bienen ihren Job erledigt hatten.
Seine Hand war dünner, als ich es in Erinnerung hatte. Sein Haar auch.
Ich lächelte und betrachtete sein langes Pferdegesicht. »Guck an. Noch mehr Falten als letztes Mal.«
Er lächelte zurück. »Aber noch lange nicht so viele wie du.«
Eigentlich war Maine zu weit weg für uns, ich hätte einen Ort finden sollen, der näher bei uns lag. Aber über die Jahre hinweg war Lee zu einem Freund geworden, und ich unternahm die Fahrt ebenso sehr seinetwegen. Wir redeten viel, während ich hier war. Er fragte mich aus. Über die Bienen, über meinen Betrieb. Er wurde es nie leid, darüber zu hören. Ich zog Lee damit auf, dass er ein Universitätsbauer war. Mit einer langen Ausbildung und voller Eifer hatte er in den Neunzigerjahren einen heruntergewirtschafteten Hof gekauft und starke Meinungen zu allem vertreten, was in der Theorie funktionierte. Ökologisch sollte es sein.
Na ja. Seither hatte er wohl alle Fehler gemacht, die man nur machen konnte, und noch einige mehr. Denn wie sich herausstellte, war die Praxis etwas ganz anderes.
In den letzten Jahren hatte er vollkommen umgestellt. Jetzt bewirtschaftete er einen konventionellen Hof, und auch hier rollten die schweren Spritzmaschinen über den Acker. Wahrscheinlich hätte ich an seiner Stelle dasselbe getan.
Ich deutete mit dem Kopf auf Tom, der ein paar Meter hinter mir stand.
»Du erinnerst dich doch noch an Tom?«
Tom kam herbei und streckte artig die Hand aus.
»Sieh einer an, na klar«, sagte Lee. »Du musst doppelt so groß sein wie beim letzten Mal.«
Tom lachte höflich.
»Also bist du dieses Jahr auch dabei.«
»Sieht ganz so aus.«
»Und was ist mit deiner Uni?« »Hab freibekommen.«
»Hier lernt man auch was«, sagte ich.
Kennys Wagen rollten davon. Es wurde still. Wir hatten alle Beuten ausgesetzt. Jetzt waren nur noch Lee, Tom und ich da. Tom saß im Auto und las oder schlief. In den letzten Stunden war es wieder schwieriger gewesen, ihm etwas zu entlocken. Aber auch heute hatte er hart gearbeitet, wenn wir ihn darum gebeten hatten, das musste ich ihm lassen.
Lee zog die Handschuhe aus, schlug seinen Schleier nach hinten und zündete sich eine Zigarette an.
»So. Jetzt heißt es warten. Ich habe nachgeschaut, wie das Wetter werden soll. Sieht gut aus«, sagte er. »Schön.«
»In der Langzeitprognose heißt es, dass man mit leichtem Niederschlag rechnen muss, aber nicht viel.«
»Ein bisschen Niederschlag können wir schon vertragen.«
»Und außerdem habe ich neue Zäune aufgestellt.«
»Gut.«
»Das dürfte sie abhalten.« »Wollen wir es hoffen.«
Wir schwiegen wieder. Ich konnte die Vorstellung von riesigen Bärenklauen,
die meine Bienenstöcke zertrümmerten, nur schwer ausblenden.
»Dafür müsstest ohnehin du aufkommen«, sagte ich.
»Danke für die Erinnerung. Ich weiß.«
Er inhalierte tief.
»Er soll also einmal übernehmen?«
Er nickte in Toms Richtung. »Ja, so ist es gedacht.«
»Will er es denn auch?«
»Er ist auf dem besten Wege.« »Braucht er dann unbedingt das College? Kann er nicht einfach anfangen?«
»Du warst doch auch auf dem College.«
»Na, eben.«
Er sah mich mit einem schiefen Grinsen an.
In den ersten Tagen an einem neuen Ort verhalten die Bienen sich ruhig. Sie halten sich überwiegend drinnen auf, in ihrem Zuhause. Dann unternehmen sie kleinere Ausflüge, um die Umgebung zu erkunden. Und allmählich werden die Ausflüge länger und länger.
Am dritten Tag legten sie richtig los, an allen Ecken und Enden summte es. Lee saß mitten im Blaubeergestrüpp, fünfzig oder sechzig Meter von den Beuten entfernt.
Den Kopf nach vorne gebeugt. Er zählte, sah mich nicht kommen. Ich schlich mich heran. »Buh!«
Er erschreckte sich so sehr, dass er hochfuhr. »Oh, Mann!«
Ich lachte.
Er hob entnervt die Arme. »Du hast mich unterbrochen!« »Reg dich ab, ich helfe dir.« »Ich traue deinen Ergebnissen nicht. Du bist nicht objektiv.«
Ich hockte mich neben ihn.
»Du verjagst sie noch«, sagte er lächelnd. »Jetzt ist hier kein Platz mehr für die Bienen.«
»Ist ja gut.«
Ich stand auf, entfernte mich zehn Meter und fasste einen Bereich von etwa einem Quadratmeter ins Auge. Ich sah genau hin.
Doch, da waren sie.
In dem Moment flog eine Biene von einer Blüte auf und summte weiter. Zur selben Zeit ließ sich eine zweite nieder. Und tatsächlich auch eine dritte.
»Läuft alles gut?« Ich sah auf. »Nicht schlecht. Zwei Stück hier. Und bei dir?«
»Drei.«
»Bist du sicher?«, fragte er. »Du übertreibst doch mal wieder.«
»Und du kannst nicht zählen«, erwiderte ich.
Er blieb noch ein wenig sitzen. »Na gut, jetzt kommen tatsächlich mehr.«
Ich stand auf und lächelte ihn an. 2,5 Bienen pro Quadratmeter bedeuteten eine gute Bestäubung. Deshalb saß Lee oft da und zählte wie ein Besessener. Denn die Anzahl der Bienen pro Quadratmeter bestimmte die Anzahl der Beeren, die er am Ende des Sommers ernten konnte.
Zwei bei ihm. Drei bei mir. Das verhieß Gutes. Dann aber setzte der Regen ein.
William
Endlich kam er. Conolly sprang vom Bock und ging zur Ladefläche seines Wagens, und da stand er, neu und hell im Kontrast zum schmutzigen, zerkratzten Untergrund.
(Fortsetzung folgt)