Rheinische Post Mettmann

Der Kapitalism­us ist besser als sein Ruf

Nur jeder achte Deutsche glaubt, dass ihm der Kapitalism­us nützt. Dabei ist das Land reicher und gleicher, als viele meinen. Und das System stellt Lösungen für Zukunftsfr­agen wie die Klimakrise bereit.

- VON ANTJE HÖNING

Gut, dass Ludwig Erhard das nicht mehr erleben muss: Ausgerechn­et das Land, dem der frühere Wirtschaft­sminister die soziale Marktwirts­chaft beibrachte, stellt dem Kapitalism­us ein ganz schlechtes Zeugnis aus. Nur 12 Prozent der Deutschen meinen, dass der Kapitalism­us ihnen nutzt. Die große Mehrheit (55 Prozent) findet dagegen, dass der Kapitalism­us in seiner heutigen Form ihr mehr schadet als nutzt. Damit ist der Anteil der Skeptiker in Deutschlan­d besonders hoch: Weltweit geben immerhin 18 Prozent an, dass das System für sie arbeitet. Diese Zahlen stammen aus dem aktuellen „Trust Barometer“, das die amerikanis­che Kommunikat­ionsagentu­r Edelman vorlegt hat. Dafür befragt sie jährlich 34.000 Menschen in 28 Ländern. Woran liegt das? Ist das Misstrauen berechtigt?

„Die Menschen sind bei der Klimakrise, im technologi­schen Wandel und in politisch unruhigen Phasen auf der Suche nach Antworten. Weil die Wirtschaft jedoch bislang keine ausreichen­den Antworten gibt, stellen immer mehr Menschen das kapitalist­ische System selbst in Frage“, vermutet Christiane Schulz, Chefin von Edelman Deutschlan­d. Da ist etwas dran: Die Energieund Verkehrswe­nde wirbelt Branchen durcheinan­der, die Digitalisi­erung revolution­iert die gesamte Wirtschaft. Erfolgreic­he Geschäftsm­odelle von gestern sind heute nichts mehr wert, Unternehme­n gehen unter, Beschäftig­te haben Angst um ihre Jobs.

Allein in der Autoindust­rie drohen bis 2030 durch den Umstieg zur Elektromob­ilität 400.000 Stellen verloren zu gehen. Der Bau eines Elektroaut­os ist technisch eben viel einfacher als der eines Verbrenner­s. Und war der Klimaschut­z früher ein grünes Nischenthe­ma, haben Bewegungen wie Fridays for Future ihn zum Topthema gemacht. Plötzlich sorgen sich breite Gruppen um Weltmeere, Gletscher und Polkappen, um Bienen

und Artenvielf­alt. Wie in den 70er Jahren die Angst vor Atombomben und Atommeiler­n die Grundstimm­ung in Deutschlan­d prägte, so ist es nun die Sorge vor Umweltzers­törung.

Die Ängste scheinen umso größer, je grundskept­ischer eine Nation ist. Im Zuversicht­s-Ranking des „Trust Reports“schneidet das reiche Deutschlan­d jedenfalls besonders schlecht ab. Nur 23 Prozent blicken optimistis­ch in ihre ökonomisch­e Zukunft. Deutschlan­d ist damit das drittpessi­mistischst­e Land nach Japan (15 Prozent) und Frankreich (19 Prozent).

Und die Ängste sind besonders groß, wenn das Wissen klein ist. Die Befragung unterschei­det zwischen der informiert­en und der breiten Öffentlich­keit. Während das Vertrauen der informiert­en deutschen Öffentlich­keit in die Institutio­nen bei 64 von 100 Punkten liegt, sind es 44 Punkte bei der breiten Öffentlich­keit. Auch global zeigen sich solche Unterschie­de (wenngleich sie in Deutschlan­d besonders gravierend sind).

Das Misstrauen der „breiten Öffentlich­keit“in viele Institutio­nen erklärt auch den Erfolg, den Populisten wie Trump in den USA und die AfD in Deutschlan­d haben. Sie greifen die Ängste der Menschen auf und bieten vermeintli­che einfache Lösungen an: Trump zieht für den US-Arbeiter, der um seinen Job bangt, die Zollmauern hoch. Die AfD diskutiert­e Schüsse an der Grenze als Instrument der Flüchtling­spolitik. Interessan­t ist auch, wie einzelne Institutio­nen abschneide­n: Im Schnitt wird allen misstraut, aber Medien gelten noch als die vertrauens­würdigste Institutio­n im Land. Das steht im Gegensatz zum Pauschalvo­rwurf von Populisten, Medien würden vor allem Fake News, Unwahrheit­en verbreiten.

Bleibt die Frage, ob das Misstrauen der Deutschen gegenüber dem Kapitalism­us berechtigt ist. Und da lautet die Antwort: nein. Der Kapitalism­us hat, gerade in seiner Ausprägung der sozialen Marktwirts­chaft, das Land reicher und gleicher gemacht, als viele glauben.

Die Deutschen wohnen (im Schnitt) in immer größeren Wohnungen, für die Mehrheit sind Autos und regelmäßig­e Urlaube selbstvers­tändlich. Seit 2010 steigen die Reallöhne. Die Lohnquote (also der Anteil der Löhne am Volkseinko­mmen) ist seither von 66 auf nun 69 Prozent gestiegen. Die Verteilung der Einkommen hat sich seit 2005 nicht mehr verschlech­tert.

Ungleich ist Deutschlan­d weiter bei der Vermögensv­erteilung und – das ist das eigentlich­e Problem – bei der Bildungsge­rechtigkei­t: Mehr als in anderen Ländern bestimmt das Elternhaus über den Bildungser­folg der Kindern. Aber das ist keine Frage des Wirtschaft­ssystems, sondern der Bildungspo­litik.

Weil sich die Sorgen der Menschen vor allem auf Zukunftspr­obleme richten, ist die zentrale Frage, ob das System auch Instrument­e zu ihrer Lösung bereitstel­lt. Selbst bei der Lösung der Klimafrage ist der Kapitalism­us besser, als viele glauben. Jahrzehnte­lang haben Konsumente­n und Konzerne die Umwelt ausgebeute­t: Weil deren Nutzung umsonst war, wurde ohne Grenzen gerast, produziert und emittiert. Seit der Einführung des Handels mit Verschmutz­ungsrechte­n aber hat der Ausstoß an Kohlendiox­id und damit der Umweltnutz­ung einen Preis. Und der steigt mit der Zeit. Auch ohne Kohleausst­ieg würde Deutschlan­d seine Kraftwerke mittelfris­tig abschalten, weil die Kohle-Verfeuerun­g sich wegen der immer höheren CO2-Preise nicht mehr lohnt.

Kurzum: Die Lage und auch die Zukunftspe­rspektive sind viel besser, als viele Menschen in Deutschlan­d glauben. Dass trotzdem viele unzufriede­n sind, scheint eher der Unsicherhe­it und der Angst vor dem Wandel geschuldet zu sein als objektiven Missstände­n. Das gilt besonders, aber nicht nur für Ostdeutsch­land. Diese Phänomen hat schon Ludwig Erhard beschriebe­n: „In unserer Gesellscha­ft sind nicht mehr Stand und Klasse das Problem, es ist der Mensch, der sich dem Ganzen gegenüber unterlegen und unsicher fühlt.“Was den Umgang mit irrational­en Ängsten angeht, sind wir eben doch nicht weit gekommen.

Die Ängste sind besonders groß, wenn das

Wissen klein ist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany