Rheinische Post Mettmann

Holocaust droht vergessen zu werden

Der Historiker warnt vor einen linken und islamische­n Antisemiti­smus hierzuland­e.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW. DAS GESAMTE GESPRÄCH FINDEN SIE UNTER RP-ONLINE.DE

Bald wird es keine Zeitzeugen des Holocaust mehr geben. Wie lässt sich das Erinnern wachhalten?

WOLFFSOHN Dazu die Gegenfrage: Es gibt keinen einzigen Zeitzeugen mehr. Doch wie konnte die Menschheit die Erinnerung an den Peleponnes­ischen Krieg der Jahre 431 bis 401 vor Christus oder die mittelalte­rlichen Kreuzzüge wachhalten? Die Antwort ist klar: Durch geschichtl­iche Überliefer­ung, vor allem durch die Geschichts­wissenscha­ft. Bezogen auf das sechsmilli­onenfache Judenmorde­n haben wir so viel Material, dass wir erst recht nicht auf Zeitzeugen angewiesen sind, um die Erinnerung wachzuhalt­en.

Sind Fotos von Überlebend­en, wie in Essen, ein guter Zugang?

WOLFFSOHN Solche Bilder schaden nicht, aber was sagen sie aus? Dass diese Menschen überlebten. Faktisch

sind sechs Millionen Juden ermordet worden. Das ist die niederschm­etternde Hauptbotsc­haft.

Wie groß ist die Gefahr, dass mit zunehmende­n Zeitabstan­d der Antisemiti­smus wächst?

WOLFFSOHN Ihre Frage beinhaltet unausgespr­ochen die These, dass der heutige Antisemiti­smus allein von den alten und neuen Nazis komme. Den gibt es zweifellos. Aber ebenso zu nennen ist der linke und der muslimisch­e Antisemiti­smus. Letzterer hat zwei Quellen: die religiöse Tradition des Islam seit Anbeginn und den Konflikt mit dem Jüdischen Staat, Israel. Zu nennen ist auch die parteien- und herkunftsü­bergreifen­de Israelkrit­ik, die oft an die Existenz Israels geht.

Brauchen wir in digitalen Zeiten neue Formen des Erinnerns?

WOLFFSOHN Auf die Inhalte kommt es an. Unsere Erinnerung­skultur gibt zum Beispiel vor, dass Muslime mit Hitler, Nazis und deren Judenmorde­n nichts zu tun gehabt hätten. Deshalb schalten sie verständli­cherweise bei diesen Themen ab. Die Zahl deutscher Muslime steigt. Wenn sich bisherige Erinnerung­sweisen fortsetzen, wird der Holocaust irgendwann vergessen sein.

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FOTO: DPA Professor Michael Wolffsohn, 1947 in Tel Aviv geboren, lehrte Neuere Geschichte in München.

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