So weit hätte es nie kommen dürfen
KÖLN Man kann nur erahnen, wie es in den vergangenen Tagen in Max Hartung ausgesehen haben muss. Er, der Athletensprecher und Säbelfechter, als Kontaktperson in Corona-Quarantäne in seiner Kölner Wohnung. Den Körper mit Dehnübungen und Yoga irgendwie in Reichweite einer Olympiafitness haltend – und dann die Gedanken, die keine Ruhe fanden. Die kreisten. Um die eine Frage: Was wird mit den Olympischen Spielen im Juli in Tokio? Spiele, für die der 30-jährige Dormagener qualifiziert ist. Im Einzel und mit der Mannschaft. Am Wochenende überraschte Hartung die Öffentlichkeit mit einer bemerkenswerten Entscheidung: Unabhängig davon, ob das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Spiele angesichts der Coronavirus-Pandemie verlegt oder durchpeitscht: Hartung hat für sich entschieden, 2020 nicht teilzunehmen.
Ihm „breche es das Herz“, sagte er. „Ich hätte heulen können.“Das Hartung forderte das IOC auf, die „Hängepartie zu beenden“und die Spiele zu verschieben. „Was ich mir wünschen würde, dass das IOC uns Athleten mit einbezieht“, sagte Hartung. Inzwischen hat IOC-Präsident Thomas Bach eingeräumt, verschiedene Szenarien in Betracht zu ziehen. Am wahrscheinlichsten dürfte eine Verschiebung der Spiele um ein Jahr sein. In den kommenden vier Wochen soll eine Entscheidung fallen. Eine vollständige Absage, so Bach in einem Brief an die Sportler, werde es nicht geben.
Hartung hat mit seinem Vorstoß ein Zeichen gesetzt. Und er befindet sich in Gesellschaft von immer mehr Athleten, die keinen Sinn, keine Chancengleichheit und kein Top-Niveau mehr in Spielen sehen, die im Sommer stattfinden würden. Wie Hartung sprachen sich im ZDF-Sportstudio auch Spitzenradfahrer Maximilian Schachmann, Boxerin Nadine Apetz und der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Jürgen Kessing, für eine Olympia-Verlegung aus. Auch die internationale Athletenvereinigung „Global Athlete“fordert eine Verschiebung der Sommerspiele. „Wenn sich die Welt zusammenschließt, um die Verbreitung des Covid-19-Virus zu begrenzen, muss das IOC das Gleiche tun“, hieß es.
Eine Gegenposition nahm der dreimalige Olympia-Medaillengewinner im Bahnradsport, Maximilian Levy, ein. „Ich hoffe, das IOC beugt sich nicht dem Druck, sondern nimmt sich Zeit für diese Entscheidung“, sagte der 32-Jährige der „Lausitzer Rundschau“.
Doch auch in Reihen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) mehren sich die Stimmen, die sich eine kritischere Auseinandersetzung mit dem Thema Olympia-Absage wünschen würden. Verbandspräsident Alfons Hörmann ist in einer misslichen Lage. Denn er ist im Prinzip auch der Meinung, dass Spiele unter den derzeitigen Umständen keinen Sinn machen. Doch er will vermeiden, seinen Amtsvorgänger
und Landsmann, IOC-Präsident Thomas Bach, zu brüskieren. Das könnte weitreichende Folgen für den deutschen Sport haben. Die diplomatischen Beziehungen könnten nachhaltig gestört werden.
Deshalb tastet sich Hörmann maximal vorsichtig heran in der Hoffnung, Bach werde mit dem IOC irgendwann endlich einlenken und das Mega-Ereignis verschieben oder ganz absagen. In der ARD-Sportschau stellte Hörmann staatsmännisch schon einmal fest: „Das sportliche Ereignis an sich ist sekundär, es geht ums Überleben der Menschheit, nicht um einzelne Gold-, Silber und Bronzemedaillen.“Moderatorin Jessy Wellmer versuchte ihm eine mögliche Absage der Spiele als Schlussfolgerung aus seiner Aussage nahezulegen. Hörmann wich zunächst galant aus und wurde dann doch sehr deutlich: „Sie haben nun eine Interpretation vorgenommen, die ich weder kommentieren noch widerlegen werde.“
Hörmann ist derzeit auf vielen Bühnen unterwegs. Der 59-Jährige bewirbt sich als Landrat für die CSU im bayrischen Oberallgäu. Sein Landesvater Markus Söder geht deutlich restriktiver mit der Coronavirus-Pandemie um und hat als einer der ersten Ausgangsbeschränkungen in seinem Bundesland beschlossen. Bach wartet lieber weiter ab. Worauf? Unklar. Hörmann versucht, sich bis dahin bedeckt zu halten. Hörmann ist in den vergangenen sechs Jahren seiner Amtszeit nie als besonders kritisch gegenüber den Positionen von Bach aufgefallen. Man kennt sich, man mag sich, man arrangiert sich.
Doch nicht nur auf der obersten Führungsebene des DOSB gibt es derzeit viel Bewegung. Besonders in einigen Landessportbünden rumort es gewaltig. Dort herrscht Unverständnis darüber, wie man angesichts von bundesweit geschlossenen Sportanlagen noch in Frage stellen könne, dass die Spiele nicht zeitnah abgesagt werden.
Es ist nach wie vor unklar, ob die Olympischen Spiele in Tokio in diesem Sommer angesichts der Corona-Pandemie stattfinden oder nicht. Max Hartung hat dagegen seit dem Wochenende Klarheit: Der Athletensprecher teilte im „ZDF-Sportstudio“trotz erbrachter Qualifikation mit, er habe für sich entschieden, in diesem Jahr nicht an den Spielen teilzunehmen. Er wolle damit ein Zeichen in der gegenwärtigen Diskussion setzen, sagte der Dormagener Säbelfechter. Er tat sehr viel mehr als das. Er inszenierte einen sporthistorischen Moment. Er stellte das eigene Ego hinter die Interessen seiner Sportkollegen zurück. Und er teilte der Öffentlichkeit in dieser Form friedlichen Widerstandes mit: Seht her, das IOC bürdet mir als einzelnem Sportler eine solche herzzerreißende Entscheidung auf. So weit hätte es niemals kommen dürfen.
Vor der Entscheidung auf seinen freiwilligen Olympiaverzicht lag am vergangenen Mittwoch eine stundenlange Telefonkonferenz mit dem IOC. Hartung nahm mit 220 Athletenvertretern aus der ganzen Welt daran teil. Was sie zu hören bekamen, waren in ihren Ohren lediglich Sonntagsreden. Dass das Wohl der Athleten im Vordergrund stehe. Glauben tun dies immer weniger Athleten.
Die Wahrheit ist doch: Überall sind Sportler derzeit vom regulären Trainingsbetrieb abgenabelt, es werden Qualifikationswettkämpfe abgesagt, sind Reisen untersagt. Das Gros der Sportler hat innerlich längst resigniert, was Olympia im Sommer angeht. Zurecht, denn mit seinem Leistungsoptimum wird dort niemand anreisen können. Es wären lächerliche Spiele.
Hartungs Selbstverzicht trägt nun die Befürchtungen der Athleten in einer Entscheidung an die Öffentlichkeit. Und die beste Wirkung wird Hartungs Opfer entfalten, wenn ihm möglichst bald weitere Athleten folgen.
STEFAN KLÜTTERMANN