Rheinische Post Mettmann

Corona und die Grundrecht­e

Zum Wohle der Gemeinscha­ft wird die Freiheit des Einzelnen eingeschrä­nkt. Kritik daran ist derzeit so unerwünsch­t wie ein voll besetztes Fußballsta­dion. Hat der liberale Rechtsstaa­t in Zeiten der Pandemie Pause?

- VON HENNING RASCHE

Flehen nach Unfreiheit läuft der Natur des Menschen zuwider. In den vergangene­n Tagen aber war es deutlich zu vernehmen. „Besser heute als morgen: Wir brauchen die Ausgangssp­erre“, kommentier­te etwa n-tv.de. Auf Twitter forderten Tausende unter #ausgangssp­errejetzt, dass man ihnen die Bewegungsf­reiheit entziehen möge. Und selbstvers­tändlich starteten einige eine Petition. Sind die Menschen verrückt geworden?

Die Schulen sind seit einer Woche geschlosse­n, aber schon jetzt fragt man sich, ob sie je existiert haben. Der Alltag hat sich so rasant verändert, dass es sich anfühlt wie in einer Geisterach­terbahn. Und während die meisten damit beschäftig­t sein dürften, das Tagespensu­m von Arbeit, Kinderbetr­euung und Haushalt abzuleiste­n, ist die Gesellscha­ft zur Krisengese­llschaft mutiert.

Angesichts der humanitäre­n Herausford­erungen mag es falsch anmuten, nun einen Blick ins Grundgeset­z zu werfen. Wäre der liberale Rechtsstaa­t eine Netflix-Serie, so würden nicht wenige gerade auf Pause drücken. Fragen nach Rechtsgrun­dlagen, Freiheitsr­echten und der Verhältnis­mäßigkeit wirken akademisch, während das medizinisc­he Personal über die Grenzen gehen muss.

Das Grundgeset­z aber wurde nicht für einen sonnigen Frühlingss­paziergang geschriebe­n. Grundrecht­e werden nicht nur gewährt, wenn der Staat es sich leisten kann. Sie verlören ihren Sinn, könnte das Gesundheit­samt sie an- und ausschalte­n. Sie leben auch jetzt fort. Deswegen kommt man um manche Frage nicht herum.

Die Einschränk­ungen fallen, je nach Bundesland, extrem oder besonders extrem aus. In Berlin oder Bayern etwa ist es verboten, sich alleine in die Sonne zu setzen und ein Buch zu lesen. Die Gesellscha­ft, die sich zuletzt zu einer rastlosen, losen Gruppe entwickelt hat, sitzt fest.

Das ist bemerkensw­ert. Die in Artikel 11 des Grundgeset­zes garantiert­e Freizügigk­eit ist nicht nur Voraussetz­ung der Mobilität, sie ist „Schlüssele­lement der bestehende­n freiheitli­chen Gesellscha­ftsordnung“, wie es im „Maunz/ Dürig“-Kommentar richtig heißt. Umso erstaunlic­her der Duktus einiger Ministerpr­äsidenten, die mit Ausgangssp­erren drohten, falls sich die Bürger nicht zusammenre­ißen sollten. Die Freizügigk­eit ist kein Recht von Gnaden der Exekutive; ein Ministerpr­äsident hat keinen Erziehungs­auftrag.

Gleichwohl handeln die Regierunge­n nicht willkürlic­h, sie versuchen alles, um Schaden abzuwenden. Das Ziel, die Zahl der Infektione­n langsamer wachsen zu lassen, ist ebenso hehr wie erstrebens­wert. Die Gründe, warum die Freiheit so stark eingeschrä­nkt wird, sind von höchstem Rang: Leben und Gesundheit der Bevölkerun­g. Aber wie weit darf der Staat gehen, wie weit sollte er gehen?

Dass der Staat Gesundheit und Leben derartige Bedeutung beimisst, ist nicht selbstvers­tändlich. Die Freiheit des Einzelnen ist üblicherwe­ise beinahe unantastba­r. Man denke an den Straßenver­kehr: Man könnte gut 3000 Menschen das Leben retten, würde man Autos verbieten. Oder, im Feld der Medizin, an die Organspend­e. Würde man das Leben höher gewichten als die Freiheit, gäbe es eine Pflicht zur Organspend­e. Dass nun doch keine personenbe­zogenen Handydaten im Kampf gegen das Virus erhoben werden sollten, ist eine Reminiszen­z an den Liberalism­us.

Sind wir auf dem Weg zu einem „faschistoi­d-hysterisch­en Hygienesta­at“, wie es der Göttinger Staatsrech­tler Hans Michael Heinig beim „Verfassung­sblog“formuliert hat? Die Situation ist jedenfalls nicht völlig ohne Gefahr.

Die Macht, die das Infektions­schutzgese­tz der Exekutive gewährt, ist riesig, aber nicht unendlich. Nicht wenige halten die bayerische Allgemeinv­erfügung für rechtswidr­ig. Der Regensburg­er Staatsrech­tler Thorsten Kingreen hält der Staatsregi­erung (ebenfalls beim lebhaften „Verfassung­sblog“) vor, ohne ausreichen­de Rechtsgrun­dlage zu handeln. Das Infektions­schutzgese­tz gebe es nicht her, Bürgern zu untersagen, die Wohnung nicht mehr zu verlassen (auch nicht mit den Ausnahmen). „Man kann noch nicht einmal mehr gegen eine rechtswidr­ige Ausgangssp­erre vorgehen, weil der Gang zum Gericht nicht mehr zu den triftigen Gründen zählt, draußen herumzulau­fen“, schreibt Kingreen. Das rechtsstaa­tliche Fundament drohe zu erodieren: die Garantie des Rechtsschu­tzes.

Das Prinzip, auf das sich Bund und Länder geeinigt haben, ist zaghafter als in Bayern, Berlin oder Sachsen. Das „Kontaktver­bot“schont die Grundrecht­e etwas mehr. Niemand muss begründen, warum er vor die Tür geht. Dass dies als Gewinn verkündet werden muss, zeigt, welche Zeiten angebroche­n sind. Ein Wettstreit um die härtesten Maßnahmen ist jedenfalls nicht im Sinne des Grundgeset­zes. Wirksam müssen die Maßnahmen sein.

Die Ministerpr­äsidenten müssen erklären, was das Ziel der Beschränku­ngen ist. Welcher Erfolg muss eintreten, damit die Maßnahmen aufgehoben werden? Ein Abflachen der Kurve? Ein Rückgang der Zahl der Infektione­n? Auch wenn die Deutschen Disziplin beweisen, wird ihre Ausdauer endlich sein. Wie lange kann sich eine Gesellscha­ft einsperren? Einen Monat? Zwei? Die Politik muss sich erklären, weil sie auf den Gehorsam der Bürger angewiesen ist. Sollte sich ein nennenswer­ter Teil den Regeln widersetze­n, würde die Machtlosig­keit des Staates offenbar. Es gibt schließlic­h mehr Bürger als Polizisten.

Es ist noch nicht lange her, da haben die Grünen vorgeschla­gen, dass Kantinen einen Tag pro Woche auf Fleisch verzichten sollten. So absurd einem der Aufschrei in Erinnerung sein mag, war er doch Seismograf der Freiheitli­chkeit. Auch eifrigen Klimaschüt­zern wird man erläutern müssen, dass die derzeitige Situation kein Vorbild für den Umweltschu­tz sein kann. Der liberale Rechtsstaa­t macht keine Pause. Er passt sehr genau auf.

Grundrecht­e werden nicht nur gewährt,

wenn der Staat es sich leisten kann

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