Der einsame Sieg des Jesse Owens
In den ersten Tagen der Olympischen Sommerspiele 1936 ist das Wetter in Berlin eher unfreundlich, bedeckter Himmel, gelegentliche Regenschauer, ziemlich kühl. Aber zumindest auf dem Papier hat eitel Sonnenschein zu herrschen, die deutsche Presse soll das Bild eines toleranten, weltoffenen Landes zeichnen. Das Propagandaministerium gibt deutliche Anweisungen: „So erfreulich die deutschen Siege sind, so wenig ist es angebracht, nur die deutschen Höchstleistungen in der Überschrift zu erwähnen. Die ausländischen Siege dürfen nicht verkleinert werden. Der Rassenstandpunkt soll in keiner Weise bei Besprechung der sportlichen Resultate Anwendung finden; vor allem sollen die Neger nicht in ihren Empfindlichkeiten getroffen werden.“
Weniger Tage später klingt das, wie der Autor Oliver Hilmes in seinem Bestseller „Berlin 1936 – Sechzehn Tage im August“belegt, noch energischer: „Es wird dringend gewarnt, die Berichterstattung der Olympischen Spiele mit rassischen Gesichtspunkten zu belasten.“Die Warnung des Propagandaministeriums hat einen Hintergrund und einen Namen: Jesse Owens. Der 22-jährige Schwarze aus den Vereinigten Staaten, 1,78 Meter groß und 75 Kilo schwer, meist mit einem vergnügten Grinsen im Gesicht, ist der Star dieser Spiele – und der Publikumsliebling.
Die Kamera der Olympia-Filmerin Leni Riefenstahl ist geradezu verliebt in Owens. Die Berliner machen sich einen speziellen Reim darauf: „Dem Führer zeigt die Leni dann, / was deutsche Filmkunst alles kann. / Da sah er dann im Negativ, / wie positiv der Neger lief.“
Owens, der den Spitznamen „The Buckeye Bullet“(übersetzt etwa: das Geschoss von Ohio) hat, gewinnt spielerisch vier Goldmedaillen in der Leichtathletik: über 100 und 200 Meter, im Weitsprung und in der 4-mal-100-Meter-Staffel. Ein solches Kunststück schafft nach ihm erst wieder Carl Lewis bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles. Propagandaminister Joseph Goebbels muss sich in seinen privaten Tagebuch-Eintragungen nicht an die eigenen Anweisungen halten. Über den 4. August 1936 schreibt er: „Wir Deutschen erringen eine Goldmedaille, die Amerikaner drei, davon zwei durch Neger. Das ist eine Schande. Die weiße Menschheit müsste sich schämen.“
Dieser 4. August ist in Berlin der Tag eines historischen Wettkampfs, den man gern unter dem Begriff „Der Kampf der Farben“führt. Im Weitsprung trifft Jesse Owens auf den Deutschen Carl Ludwig „Luz“Long, geboren in Leipzig, 23 Jahre alt, Jurastudent, groß, blond und blauäugig. Owens schreibt später über seinen Gegner: „Ein großer, semmelblonder, perfekt gewachsener Bursche (ein ideales Modell für Hitlers Theorie von der Überlegenheit der nordischen Rasse).“
Das Duell im Olympiastadion wird zum Höhepunkt der Spiele, zu einer Geschichte, die im Laufe der Jahre ausgeschmückt wird mit wahren und erfundenen, weil erwünschten Details einer ungewöhnlichen Freundschaft. Jesse Owens hat das durchaus befeuert, in seiner Biografie, in anderen Veröffentlichungen und in unzähligen Vorträgen, mit denen er die Tage von Berlin wiederaufleben ließ. „Das sind Geschichten, die die Leute hören wollen“, sagte er dazu. Hat der Deutsche seinem Gegner, der in der Qualifikation Schwierigkeiten zu haben schien, entscheidende Tipps gegeben? Diese Frage ist bis heute unbeantwortet.
Wahr ist freilich, dass Luz Long seinem letztlich mit 8,06 Metern souverän gewinnenden Konkurrenten sofort gratuliert und ihn umarmt. Nach der Siegerehrung verlassen beide Arm in Arm das Stadion. Ein Foto zeigt Owens und Long nebeneinander bäuchlings auf dem Boden des Stadions liegend. Zwei junge Männer, die für einen Tag vergessen machen, was sich in der Welt zusammenbraut. Owens schreibt später: „Es kostete ihn viel Mut, sich vor den Augen Hitlers mit mir anzufreunden. Man könnte alle Medaillen und Pokale, die ich habe, einschmelzen, und sie würden nicht für eine Schicht über die 24-Karat-Freundschaft, die ich in diesem Moment für Luz Long empfand, reichen. Hitler muss wahnsinnig geworden sein, als er sah, wie wir uns umarmten. Das Traurige an der Geschichte ist, dass ich Long nie mehr gesehen habe. Er wurde im Zweiten Weltkrieg getötet.“
Der besiegte Deutsche veröffentlicht in der „Neuen Leipziger Zeitung“seine Gedanken zum Wettkampf: „Der Kampf der Farben ist beendet. Schwarz war der Beste, einwandfrei der Beste, mit 19 Zentimetern vor Weiß.“Der mutigen Feststellung folgt auch anderes. Als im Wettbewerb die beiden Athleten zwischenzeitlich gleichauf liegen, liest sich das bei Luz Long so: „Ein Blick ins Publikum, das sich nicht beruhigen will, dann ein Blick zur Führerloge, wie? Die ganze Loge in
Aufruhr? Der Führer klatscht begeistert. Ich stelle mich dankend grüßend unter meinen Führer. Und ich glaube es kaum, er erhebt sich, grüßt mit seinem gütigen, väterlichen Lächeln zu mir herab, in seinem Auge liegt der einzige Wunsch, dass ich siegen möchte.“
Nach den Olympischen Spielen geht das amerikanische Leichtathletik-Team auf eine Tour durch Europa. Jesse Owens macht sich vorzeitig auf die Heimreise, er wird deshalb suspendiert. Bei der Parade
für die US-Athleten in New York wird er gleichwohl gefeiert – und findet sich wieder in der amerikanischen Wirklichkeit. Bei der Siegesfeier im noblen New Yorker Hotel Waldorf-Astoria muss er den Warenaufzug nehmen – gesellschaftliche Anerkennung für Farbige steht nicht auf der Tagesordnung. Von Franklin D. Roosevelt ist kein Glückwunsch zu erwarten, der Präsident der Vereinigten Staaten steckt im Wahlkampf und braucht Stimmen aus den Südstaaten. Viel ist darüber geschrieben worden, dass Hitler den vierfachen Sieger von Berlin nicht in die Führerloge geholt und ihm gratuliert habe. Am ersten Tag der Spiele hatte er dort noch Tilly Fleischer aus Frankfurt empfangen, die deutsche Olympiasiegerin im Speerwurf. Das Internationale Olympische Komitee ließ den Reichskanzler freilich wissen, dass solche öffentlichkeitswirksamen Auftritte im olympischen Protokoll nicht vorgesehen sind. Jesse Owens notierte dazu in seiner Biografie: „Hitler hat mich nicht brüskiert, sondern Franklin D. Roosevelt: Der Präsident hat mir nicht einmal ein Telegramm geschickt.“
Auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere wird für Jesse Owens der amerikanische Traum zu einem bösen Märchen. Er mag sich erinnert haben an die Anfänge in Oakville/Alabama, dort wird er am 12. September 1913 geboren. Er ist das zehnte Kind einer Farmpächter-Familie, Baumwollpflücker, für die es kein Entkommen „aus der Armut und der Verachtung“zu geben scheint. Die Mutter hat die Kinder zu betreuen. Nebenbei, so schreibt Owens in seinem Buch „Schwarze Gedanken“, arbeitete sie „mehrere
Stunden am Tag als Putzfrau. Und dennoch – es gab Wochen, in denen wir fast verhungerten. Bohnen und Zwiebeln, Kartoffeln und Zwiebeln, Brot und Zwiebeln, und nie genug. So vergingen Jahre, und das Beste, was meinem Vater gelang, war, hier und da ein paar Wochen Gelegenheitsarbeit zu finden“. Die Familie zieht von Alabama nach Cleveland/Ohio, die Rassentrennung ist dort weniger strikt. Jesse bekommt wegen seiner athletischen Fähigkeiten ein kleines Stipendium an der Ohio State University in Columbus. Ums Überleben muss er sich selbst kümmern: „Ich hatte gleich drei verschiedene Jobs an sechs Wochentagen – von fünf bis Mitternacht war ich Fahrstuhlführer, morgens arbeitete ich in der Schulbibliothek und mittags bediente ich in der Mensa die weißen Studenten.“
Das sportliche Talent des schwarzen Studenten wird schnell erkannt. Jesse Owens ist bereits einer der besten amerikanischen Sprinter und Springer, als er den 25. Mai 1935 zum wahrscheinlich größten Tag in der Geschichte der amerikanischen Leichtathletik macht. Auf dem Sportplatz der University of Michigan in Ann Arbor stellt er innerhalb von 45 Minuten fünf Weltrekorde auf – seine 8,13 Meter im Weitsprung werden lange halten – und egalisiert einen weiteren. Sein Trainer Larry Snyder kam ins Schwärmen: „Jesse schien über die Piste zu schweben. Er streichelte sie geradezu. Von den Hüften an aufwärts bewegte er den Körper praktisch nicht – er hätte eine volle Kaffeetasse auf dem Kopf balancieren können und nichts davon verschüttet.“
So kündigt sich ein Olympiasieger an. Die große Sport-Karriere des Jesse Owens endet freilich nach Berlin und nach der Suspendierung abrupt. Der junge schwarze Athlet, der sich um eine schon vierköpfige Familie kümmern muss, erhält zwar reichlich Einladungen in die luxuriösen Villen der Weißen – man zeigt ihn gern als Stargast vor –, aber Jobangebote gibt es nicht. Jesse Owens verkauft seine Schnelligkeit, er wird zur Jahrmarkt-Attraktion, sprintet für ein paar Dollar gegen Windhunde, Motorräder und Rennpferde. Gegen hochgezüchtete Pferde gewinnt er immer; der Starter feuert seine Pistole so nah am Ohr des Tieres ab, dass das verängstigte Pferd verzögert in Lauf kommt. „So verkaufte ich mich selbst“, schreibt Owens bitter, „in eine neue Art der Sklaverei.“
Owens tourt mit einer Jazzband durch die USA, mit einer Wäscherei geht er pleite. Die Situation bessert sich erst grundlegend, als er 1955 von Dwight D. Eisenhower zum „Botschafter des Sports“ernannt wird. Er reist um die Welt und erzählt seine Geschichte. Präsident Ford verleiht ihm die Freiheitsmedaille. Deutschland, das Land des im Krieg gefallenen Luz Long, hat Jesse Owens öfter besucht, zwischen den Familien Long und Owens bestehen auch heute noch Verbindungen.
1951 kommt der vierfache Olympiasieger erstmals nach den Spielen wieder nach Berlin, er begleitet die Harlem Globetrotters auf einer Europa-Tournee. Auf der Gedenktafel für die olympischen Sieger am Marathontor sieht er seinen Namen an der ersten Stelle, im Stadion läuft er vor begeistertem Publikum eine Ehrenrunde. In einer kurzen Rede fordert er die Deutschen auf, sich an der Seite Amerikas „für Freiheit und Demokratie“einzusetzen, „unter dem Schutz des allmächtigen Gottes“.
Jesse Owens starb vor 40 Jahren, am 31. März 1980, in Tucson/ Arizona an Lungenkrebs. Zwei Jahre zuvor hatte er seine Autobiografie veröffentlicht: „Jesse – The Man Who Outran Hitler“. Vorangestellt ist den Lebenserinnerungen eine sehr besondere Widmung: „Für zwei unvergleichliche Mannschaftskameraden: Meine Frau Ruth – und den Nazi, der Hitler mit mir bekämpft hat, Luz Long.“