Rheinische Post Mettmann

Brüssel, wir haben ein Problem

- VON MARTIN BEWERUNGE

Eine Krise, heißt es, bringe das Beste und das Schlechtes­te im Menschen hervor. In der Corona-Pandemie tritt Viktor Orbán nun unverhohle­n als der Demokratie­verächter auf, für den ihn viele schon so lange halten. Mithilfe der Zweidritte­l-Mehrheit seiner rechtskons­ervativen Fidesz-Partei im Parlament hat der ungarische Ministerpr­äsident ein Notstandsr­egime geschaffen, das die Gewaltente­ilung in dem osteuropäi­schen Land faktisch beendet. Viele Staaten in Europa greifen derzeit zu drastische­n Maßnahmen, um die Ausbreitun­g des Virus zu stoppen. Für Orbán steht das weniger im Vordergrun­d. Dass man nun seinen diktatoris­ch-autoritäre­n Kurs kaum noch stoppen kann, hat für ihn mehr Gewicht.

Die Vorgänge in Budapest erinnern unwillkürl­ich an das, was vor knapp vier Jahren in der Türkei passierte: Der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan nutzte damals den Putschvers­uch des Militärs, um einen Ausnahmezu­stand zu schaffen, in dem über allem ein einziges ungeschrie­benes Gesetz stand: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Mögen die Mittel auch nicht so drakonisch sein, so verfährt Orbán doch nach demselben Prinzip: das Parlament – entmachtet, die Meinungsfr­eiheit – geknebelt, die Dauer der Zwangsmaßn­ahmen – ungewiss. Denn das Nachzählen, wann das letzte Virus wirklich besiegt ist, kann dauern.

Doch während die Türkei aus gutem Grund noch kein Mitglied der Europäisch­en Union ist, gehört Ungarn seit bald 16 Jahren dazu. In dieser Zeit hat das Land wirtschaft­lich von Europa enorm profitiert, sich von den freiheitli­ch-demokratis­chen Grundsätze­n hingegen immer weiter entfernt. Seit 2018 läuft ein zähes EU-Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Ungarn, weil die Gewaltente­ilung im Land bedroht sei. Spätestens jetzt dürfte klar sein: Brüssel, wir haben ein Problem. BERICHT

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