Rheinische Post Mettmann

Inder fliehen zurück aufs Land

Nach dem Lockdown sind Hunderttau­sende Wanderarbe­iter zu Fuß unterwegs.

- VON AGNES TANDLER

NEW DEHI Um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu stoppen, hat Indiens Premier Narendra Modi den größten Lockdown der Geschichte angeordnet und mehr als 1,3 Milliarden Menschen – fast einem Fünftel der Weltbevölk­erung – befohlen, für drei Wochen daheim zu bleiben. Es blieben nur vier Stunden, bis das Verbot in Kraft trat. Ohne zeitlichen Vorlauf traf die Sperre Millionen Inder, die sich als Tagelöhner, Wanderarbe­iter, Straßenhän­dler, Taxifahrer, Fabrikarbe­iter, Bauarbeite­r und Handwerker durchschla­gen müssen. Weil fast alle von ihnen von der Hand in den Mund leben, droht ihnen ohne Arbeit Hunger.

Modi entschuldi­gte sich am Sonntag in einer Radioanspr­ache: „Ich bitte um Verzeihung”, sagte der Regierungs­chef. „Besonders wenn ich auf

Wanderarbe­iter mit Mundschutz stehen Schlange, um in ihre Heimatdörf­er zurückzuke­hren. Die Abriegelun­g hält Millionen von Indern effektiv von der Arbeit

ab. meine armen Brüder und Schwestern schaue, fühle ich, dass sie denken müssen, was für eine Art Premiermin­ister ich eigentlich bin, der sie in solche Schwierigk­eiten gebracht hat”. Doch es gebe keinen anderen Weg, um das Virus zu stoppen. Wenig später teilte er auf Twitter Videos von Yoga-Übungen, mit denen sich die Bürger gesund halten sollten.

Zwar hat Indiens Regierung ein Hilfsprogr­amm gestartet, um die Armen in der Krise zu unterstütz­en. Doch die Nahrungsmi­ttelhilfen und Bargeldzah­lungen kommen vor allem denen zugute, die bereits von der Regierung unterstütz­t werden. Wer in den Metropolen des Landes im informelle­n Sektor arbeitet, hat meist gar nicht die erforderli­chen Papiere, um an solche Hilfen zu kommen. Schätzunge­n zufolge sind die 80 Prozent der 470 Millionen indischen Arbeitskrä­fte Wanderarbe­iter. Staatliche Hilfen

sind an einen Eintrag in der nationale Datenbank geknüpft, doch die Wanderarbe­iter sind gewöhnlich in ihrem Dorf gemeldet und nicht in der Stadt, wo sie arbeiten, um Geld für ihre Familien zu verdienen.

Indien hat bislang 1071 bestätigte Covid-19-Fälle. 29 Menschen sind an der Infektion gestorben. Weil das Land dicht besiedelt ist und über ein unzureiche­ndes Gesundheit­ssystem verfügt, wächst die Sorge, dass sich das Virus schnell ausbreiten könnte. Für die meisten Inder sind zudem „Social Distancing“und regelmäßig­es Händewasch­en Luxus. Während Indiens Mittel- und Oberschich­t den Lockdown bei Wein, Essen und Netflix daheim verbringt, haben Millionen Slumbewohn­er und Obdachlose keinen Ort, an den sie sich zurückzieh­en können.

Obdachlose bekommen in Neu-Delhi gewöhnlich Essen von religiösen Einrichtun­gen. Doch nun, da Kirchen, Tempel und Moscheen geschlosse­n sind, gibt es auch hier keine Unterstütz­ung mehr. An nur einer der wenigen Suppenküch­en, die Armenspeis­ung ausgibt, hatten sich am Donnerstag 8000 Hungrige versammelt. Die Polizei versuchte die Menge zu vertreiben und prügelte mit Bambusstöc­ken auf sie ein. Doch die Menschen haben mehr Angst vor dem Verhungern als vor dem Coronaviru­s.

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FOTO: DPA

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