Es fehlt bislang eine klare Strategie
Der Soziologe und Bestsellerautor Aladin El-Mafaalani warnt vor einer schnellen Lockerung der strengen staatlichen Maßnahmen, die eine rasche Verbreitung des Coronavirus hemmen sollen.
Vor vier Wochen ist erstmals nachweislich ein Mensch in Deutschland an der Infektion mit dem neuen Coronavirus gestorben. Vor drei Wochen wurden die Schulen geschlossen. Seit zwei Wochen gilt das Kontaktverbot. Und seit einer Woche wird von vielen gefordert, dass die Maßnahmen zeitnah zu lockern seien. Es ist notwendig, jetzt schon über verschiedene Strategien nachzudenken, die zu einer mittelfristigen Lockerung der Maßnahmen führen können. Solche Lockerungen schlicht zu fordern und einen Zeitdruck aufzubauen, zeugt von einem mangelnden Problembewusstsein.
Die Datenlage ist voller Unsicherheiten. Die Anzahl der bestätigten Infektionen nimmt zu. Aber dieser Befund ist kaum aussagekräftig, da einerseits immer mehr getestet wird, andererseits die tatsächliche Zahl der Infizierten relativ sicher um ein nicht bestimmbares Vielfaches höher liegt. Aussagekräftiger sind die Daten zu den Sterbefällen. Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass die Differenz zwischen erkannten und tatsächlichen Corona-Sterbefällen deutlich geringer ist, zum anderen werden diese Daten international zumindest ähnlich erhoben.
Und diese Daten geben keinen Grund zur Entwarnung. Denn sie zeigen in Deutschland bisher einen sehr ähnlichen Verlauf wie in Frankreich, Großbritannien und auch Italien. Es dauerte in den drei Ländern 16 bis 17 Tage, bis die Zahl der Verstorbenen von 10 auf 1000 anstieg. Wir wissen jetzt, dass es in Deutschland 18 Tage gedauert hat.
Abgesehen davon, dass die Epidemie in Deutschland später anfing, lassen sich anhand der Zunahme der Corona-Sterbefälle noch keine Unterschiede zu den anderen Ländern erkennen. Günstig kann sich auswirken, dass in Deutschland früher zu drastischen Gegenmaßnahmen gegriffen wurde. Wie stark sich das frühere (allerdings zu Beginn recht inkonsequente) Herunterfahren der Gesellschaft auf die Entwicklung der Sterbefälle auswirken wird, wird erst in den nächsten zwei Wochen erkennbar werden.
Falls wir feststellen, dass die Maßnahmen wirken, welche Konsequenzen könnten abgeleitet werden? Es wäre immer noch nicht klar, wann und welche Maßnahmen gelockert werden können. Denn es fehlt bisher eine klare Strategie. Öffentlich werden zwei gegenübergestellt: zum einen die Eindämmung von Neuinfektionen durch die längere Fortführung der repressiven Maßnahmen, zum anderen die kontrollierte Durchinfektion durch Lockerung. Beide Strategien haben fundamentale Schwächen.
Bei der kontrollierten Durchinfektion geht es darum, dass weniger gefährdete Personen die Krankheit durchleben sollen, damit es zur „Herdenimmunität“kommt. Gefährdete Personenkreise sollen geschützt werden. Diese Strategie klingt plausibel. Allerdings ist noch unklar, wer genau als besonders gefährdet gilt. Sind es die Menschen über 70, dann sprechen wir über 13 Millionen Menschen. Zuzüglich der Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Asthma, Bluthochdruck, Diabetes, Krebs und chronischen Lungenerkrankungen wären wir bei über 20 Millionen.
Wie soll man all diese Menschen schützen, während sich das Virus im Rest der Bevölkerung ausbreitet? Man müsste Krankenhäuser, Seniorenheime und das Personal dort schützen – was uns derzeit eindeutig nicht gelingt. Viele Ältere und Kranke werden von ihren Angehörigen versorgt oder leben in Mehrgenerationenhäusern und -haushalten.
Die Isolation der Risikogruppen müsste zudem relativ komfortabel ausgestaltet werden, denn die Phase der Durchinfektion müsste viele Monate andauern, um das Gesundheitssystem und weitere Teile der gesellschaftlichen Infrastruktur nicht zu überfordern. Wenn Millionen gleichzeitig erkranken, drohen chaotische Zustände. Außerdem
wissen wir noch nicht genau, welche Folgen die Erkrankung für Jüngere hat. Wie viele derjenigen, die nicht zur Risikogruppe gehören, wollen dieses Risiko eingehen? Und: Wie ist das Risiko für ältere Lehrkräfte an Schulen und Universitäten einzuschätzen? Ein weiteres Problem ist, dass es kaum möglich ist, Herdenimmunität herzustellen, wenn ein Viertel der Bevölkerung isoliert ist. Die Herdenimmunität wäre an dem Tag nicht mehr gewährleistet, an dem man die Isolation auflöst.
Es ist also noch eine ganze Menge zu klären. Während die Strategie der kontrollierten Durchinfektion noch bei Weitem nicht ausgereift ist, führen die aktuellen Maßnahmen auf Dauer ins Verderben. Neben der ökonomischen Krise droht auch die soziale: Vereinsamung, häusliche Gewalt, Kindeswohlgefährdungen können nicht mehr erkannt werden, Entwicklungschancen von Kindern werden eingeschränkt, viele Grundrechte sind außer Kraft gesetzt. Dieser Zustand darf nicht zu lange andauern. Aber Grundrechte sind auch nicht anständig verteidigt, wenn wir Ärzte dazu zwingen, verfassungsrechtlich fragwürdige, aber dennoch notwendige Entscheidungen zu treffen: wen retten – und wen nicht? Falls es zu wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Katastrophen kommt, weil man zu früh gelockert hat, werden es Sicherheitsfanatiker zukünftig leicht haben – und Freiheitsrechte schwer.
Man kann es drehen, wie man will: Es ist noch kein belastbarer Ansatz in Sicht. Daher kann es nur darum gehen, Zeit zu gewinnen für die vielen offenen Fragen, für (medizinische) Forschung, für die Aufrüstung des Gesundheitssystems und letztlich für die Entwicklung eines Mittelwegs. Hierfür bedarf es vieler abgestimmter Maßnahmen. Und Geduld.
Wenn Millionen gleichzeitig erkranken, drohen chaotische
Zustände
Aladin El-Mafaalani ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni
Osnabrück.