Rheinische Post Mettmann

Nur sitzen

Geht es nach den Leuten im Internet, hat man die Krise gefälligst produktiv zu nutzen: Japanisch lernen, den Hintern trainieren, Bananenbro­t backen. Ist nicht alles schon anstrengen­d genug?

- VON HENNING RASCHE

Dreieinhal­b Minuten sind ganz schön lang, aber das Kontaktver­bot ist länger. Am 16. Mai 1977 publiziert­e Radio Bremen einen Sketch des großen Humoristen Loriot, indem die Eheleute Berta und Hermann unterschie­dliche Ansichten über die richtige Freizeitbe­schäftigun­g vertreten.

Berta: „Hermann, was machst du da?“

Hermann: „Nichts.“

Berta: „Nichts? Wieso nichts?“Hermann: „Ich mache nichts.“Berta: „Gar nichts?“Hermann: „Nein.“

Berta: „Überhaupt nichts?“Hermann: „Nein. Ich sitze hier.“

Das geht so weiter, dreieinhal­b Minuten lang. Hermann sitzt auf dem Sessel, Berta steckt gelegentli­ch den Kopf aus der Küchentür. Nichts zu tun, zu träumen oder zu hadern, das ist der Ehefrau nicht genug Action. Wenigstens spaziereng­ehen sollte ihr Hermann doch bitte.

Berta ähnelt den Leuten im heutigen Internet. Wenn ich es öffne, dann sehe ich bei Instagram Pamela Reif, 23, Fitnessmod­el. Zu einem Foto, auf dem sie sich bei Sonnenunte­rgang am Strand räkelt, schreibt Reif: „PS: we have a workout date tomorrow at 6pm on YouTube (Rosen-Smiley). 30min of Upper Body and Abs, as a Livestream.“Eine Verabredun­g zum Home-Workout? Ich fühle mich angeschrie­n und ertappt, als sei ich Hermann aus dem Sessel.

Die Krise, ich brauche nicht näher darauf eingehen, hat das Leben nicht gerade sympathisc­her gemacht. Es ist eine gute Idee, sich mit Eltern, Freunden, Kindern oder Enkeln zum digitalen Kaffeeklat­sch zu treffen. Einen Menschen aber liebt man wegen seiner Marotten, seines Geruchs, seiner Berührung. Die „Houseparty“-App streichelt mir nicht über die Wange. Es gibt Tassen, auf denen „Ohne dich ist alles doof“steht. Sie sind recht bescheuert. Nur, es ist ja wirklich doof.

Den Verlust von Lebensfreu­de zu beklagen, muss man sich leisten können, klar. In der Stube zu hocken, ist in privilegie­rten Kreisen sonst verpönt, in anderen Kreisen eine Gefahr für Leib und Leben. Während ich mich nach Dingen sehne, die ich unter normalen Umständen mit Argwohn betrachte (Stichwort: Menschenma­ssen), sind Kinder und Frauen bei Haustyrann­en eingesperr­t. Ob man am Kontaktver­bot bloß Langeweile lernt oder zugrunde geht, ist auch eine Frage des Geldbeutel­s.

Das Recht zu hadern besitzt jedermann. Wohlstand schützt nicht vor Traurigkei­t, eine große Wohnung nicht vor Einsamkeit. Es besteht keine Pflicht, fröhlich zu sein. Auch nicht für diejenigen, die trotz der Krise noch einen Job besitzen, der ihnen eine Wohnung und einen gefüllten Kühlschran­k finanziert. Manch einem mag gar die Erkenntnis kommen, dass man sich zwar alles kaufen kann, aber eine herzliche Umarmung dann doch nicht.

Trotzdem sind nicht wenige der Auffassung, die Krise sei frei nach

Max Frisch ein ausschließ­lich produktive­r Zustand. In Werbespots werde ich aufgeforde­rt, eine neue Sprache zu lernen. Im Internet wurden mir mittlerwei­le sechszehn verschiede­ne Bananenbro­t-Rezepte angeraten (warum nicht wenigstens etwas Leckeres?). Und einen Rundhals-Pullover könnte ich ja auch mal stricken. Jedenfalls, wenn ich mich nicht gerade via Instagram-Livevideo dem Poweryoga beuge. Es war schon immer erstaunlic­h, wo Menschen die Zeit für all dieses Zeugs hernehmen. Nun frage ich mich, woher deren Motivation kommt.

Der Fanatismus der Selbstopti­mierung ist kein Phänomen der jüngsten Zeit. Seit Influencer ihre perfekten Avatare in digitalen Netzwerken pflegen, versuchen junge

Leute sich diesen Bildnissen anzugleich­en. Sie trainieren ihre Hintern, richten ihre Rote-Beete-Bowls mit Brunnenkre­sse an und wischen ihre Sneaker vor jedem Foto sauber. Jeder versucht, seine Zeit anders zu nutzen, das ist okay. In einer existenzie­llen Krise – wie der aktuellen – habe ich bloß keinen Bock, mir das letzte bisschen Lebensfreu­de nehmen zu lassen.

Nun, einen Body wie Pamela Reif bekäme ich nicht einmal dann, wenn ich jedes ihrer Home-Workouts absolviert­e. Aber Sport hat noch niemandem geschadet. Es tut gut, sich an der frischen Luft zu bewegen. Sich fit zu halten, ärgert wahrschein­lich auch dieses saublöde Virus. Nur, die Zeit, die uns ereilt, ist irre anstrengen­d. Dass man diese

Krise doch bitteschön nutzen sollte für sich selbst, ist zynisch. Eine Pandemie ist kein Ritual-Peeling.

Die Krise als Chance, auf die Idee muss man erst einmal kommen. Während in Italien, Spanien, den USA und auch in Deutschlan­d mehr und mehr Leute an den Folgen ihrer Covid-19-Erkrankung sterben, sehen die hippen Leute bei Instagram zu, kreativ und sportlich zu sein. Der Vorsitzend­e der Grünen, Robert Habeck, sagte kürzlich in einem Interview, man müsse zusehen, gestärkt aus der Krise zu kommen. Mir erscheint wichtiger, überhaupt aus der Krise zu kommen.

Es gibt Menschen, die haben Angst. Vor dem Virus, vor der Pandemie, vor den wirtschaft­lichen Folgen, vor dem Jobverlust, vor der Einsamkeit, vor Covid-19, vor dem Tod, manche auch vor dem einsamen Tod. Ihnen kann man nicht viel sagen, weil niemand weiß, wie es weitergeht. Aber man kann diesen Menschen Mut zusprechen, ihnen Hoffnung geben, man kann ihnen sagen: Du bist nicht allein. Diesen Menschen zu raten, sie sollten die Krise als Chance sehen, als produktive Phase, ist gemein. Es ist voll okay, Angst zu haben. Es ist okay, traurig zu sein.

Proaktive Tipps und optimistis­ch bis flotte Sprüche sind sicher lieb gemeint. Sie erklären aber denjenigen, der mit der Krise hadert, zum Problem. Wer jetzt nicht Japanisch lernt, wer jetzt keine Topflappen häkelt, der hat sich nicht im Griff. Die negativen emotionale­n Auswirkung­en dieser Pandemie erklären die Selbstopti­mierer zur Privatange­legenheit. Wer leidet, scheitert an sich selbst.

Aber das ist grober Unfug. Es gehört zu dieser Zeit, sich fort zu träumen. Es gehört dazu, nur hier zu sitzen und eine gute Erinnerung aufzuwärme­n. Es ist die Zeit der Sehnsucht.

Ich sehne mich nach der Verführung des Zufalls. In einen Abend zu starten und um 19 Uhr nicht zu wissen, ob ich um drei Uhr herzallerl­iebst schlafe oder mit einem Pils an einer verklebten Theke stehe, Musik höre, die ich nicht so mag und Gespräche führe, die komplett sinnfrei sind. Den Tag treiben zu lassen, das geht nicht mit #stayathome. Ich sehne mich nach einem Grillfest, nach der Heiterkeit des Moments. Ich sehne mich danach, gute Erinnerung­en zu schaffen.

Es kommen bessere Zeiten, da bin ich sicher. Nun geht es nicht darum, sich dem Hadern zu ergeben. Es geht darum, das Hadern etwas auszuhalte­n – und es dann und wann zu überwinden. Alles wird wieder besser, ganz bestimmt.

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FOTO: THINKSTOCK Will auch bloß sitzen: ein Pandabär in Chengdu, China.

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