Angst, die plötzlich alle verbindet
SPRECHSTUNDE
Jenny W. aus Bonn fragt: „Wie geht es eigentlich den psychisch Kranken in der Corona-Krise?“
Jürgen Vieten Entgegen den Erwartungen geht es vielen ein wenig besser. Warum? Die Menschen mit schweren Depressionen fühlen sich in der Regel einsam, isoliert, unverstanden und glauben, sich für ihren Zustand rechtfertigen zu müssen. Sie sind zumindest stundenweise voller Angst und Panik, ziehen sich zurück. In der Krise erleben sie aber bei vielen Menschen ähnliches. Dadurch fühlen sie sich den Anderen wieder näher, was sie erleichtert. Außerdem wird der – oft überflüssige – Rechtfertigungsdruck („Was hast du denn? Warum kommst du nicht mit uns? Warum kannst du dies und das nicht machen?“) geringer, denn viele andere sind mit sich selbst beschäftigt und nicken manche Ängste und Sorgen einfach ab.
Bei Patienten führt dies im Schnitt vielleicht zu fünf bis zehn Prozent Besserung. Dies scheint nicht viel, kann aber vereinzelt große Bedeutung haben und die verlorengegangene Hoffnungen wecken, gesund zu werden.
Ähnlich äußern sich Patienten mit stärkeren Zwängen: Sie sind relativ gelassen, wundern sich, wieviel zwanghafte Verhaltensmuster (dauerndes Händewaschen, nichts anfassen, um sich nicht anzustecken, Abstand halten) sie plötzlich bei anderen Menschen erkennen. Erkenntnis:
Jürgen Vieten ist Facharzt für Psychiatrie in Mönchengladbach.
„Dann bin ich ja gar nicht so verrückt!“Dies lindert auch die Scham, den viele Zwangskranke mit ihren Symptomen verbinden.
Angstpatienten wiederum werden überraschend ruhig, leistungsund hilfsbereit, wenn in ihrem Umfeld Angst und Panik ausbricht. Plötzlich hat ihre unbegründete Angst eine Rechtfertigung, das löst die Anspannung, „bekloppt“zu sein, den Anderen „auf die Nerven zu fallen“(etwa mit unbegründeten Krankheitsängsten), Panik in Menschenmengen oder engen Räumen. Dankbar für das Gefühl, endlich nicht mehr alleine zu sein, leisten sie Hilfe, denn „mit Angst und Panik kenne ich mich gut aus“.
Auch aus Kriegszeiten wissen wir, dass durch die allgemeine Angst, gedrückte Stimmung und sorgenvolles Grübeln psychisch Erkrankte oft unauffällig bleiben.