Rheinische Post Mettmann

Mit dem Virus leben lernen

Tag der Entscheidu­ng: Die Ministerpr­äsidenten beraten mit Kanzlerin Angela Merkel über Kontaktspe­rren-Lockerunge­n. Sicher ist nur: Der Weg zur Normalität ist lang.

- VON KRISTINA DUNZ UND BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Die Zeit der rigiden Einschränk­ungen ist ab Montag vorbei, schrittwei­se werden die Kontaktspe­rren in der Corona-Krise gelockert – das ist zumindest die Botschaft aus mehreren Bundesländ­ern am Dienstag. Damit dürfte es Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) in der Schalte mit den Ministerpr­äsidenten am Mittwoch schwer fallen, das Gegenteil durchzuset­zen, wenn sie es denn je geplant hat.

Vorige Woche hatte sie klargestel­lt, dass sie die Gesamtvera­ntwortung dafür trage, dass das deutsche Gesundheit­ssystem nicht durch eine zu hohe Zahl von lebensgefä­hrlich Infizierte­n überforder­t werde. Aber sie hatte auch erklärt, dass sie den Empfehlung­en der Nationalen Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina einen hohen Wert beimesse. Nun entwickelt sich die Infektions­rate laut Robert-Koch-Institut vergleichs­weise positiv, und die Wissenscha­ftler der Leopoldina sehen Möglichkei­ten, die scharfen Vorsichtsm­aßnahmen zu lockern. Allerdings könnte eintreten, wovor Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) via Twitter am Dienstagmo­rgen warnte: „Es sollte kein Überbietun­gswettbewe­rb entstehen, der die Menschen verunsiche­rt.“

Aus den Ländern sind bereits ganz unterschie­dliche Signale gekommen. Lösen die Ministerpr­äsidenten und die Kanzlerin das jetzt nicht auf, bekommt Deutschlan­d den Flickentep­pich, den doch alle vermeiden wollten, wie sie sagten. NRW jedenfalls preschte mit der Ankündigun­g vor, bereits am Montag die Schulen wieder schrittwei­se zu öffnen. Baden-Württember­g will die Klassenzim­mer erst ab dem 27. April wieder öffnen. Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil (SPD) dämpfte die Erwartunge­n:

„Niemand von uns sollte die Illusion haben, dass wir ab nächster Woche unser altes Leben zurückbeko­mmen.“Ihr altes Leben werden die Bürger wohl lange nicht zurückbeko­mmen, aber viele Bundesländ­er stimmten sie grundsätzl­ich auf baldige Erleichter­ungen ein – sagten aber nicht, ab wann.

Für Verwirrung hat die von Merkel so geschätzte Leopoldina gesorgt. So bewertet Hessens Ministerpr­äsident

Volker Bouffier (CDU) den Vorschlag einer schnellen Öffnung von Grundschul­en skeptisch. Er könne sich nicht vorstellen, dass Hessen diesen Weg gehen werde, sagte er mit Blick auf die Empfehlung­en der Wissenscha­ften, mit einer schrittwei­sen Öffnung der Schulen unter anderem in den Grundschul­en zu beginnen. Gerade kleine Kinder könnten im Überschwan­g die strengen Schutzvork­ehrungen von Abstand und

Händewasch­en im Überschwan­g vergessen. Und diese werden bestehen bleiben – weit über die jetzige Hochphase der Corona-Krise hinaus. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) sagte, es werde „vorsichtig­e erste Schritte“in eine neue Normalität geben. Aber: „Es geht darum, mit dem Virus zu leben und leben zu lernen.“

Dazu werden auch Atemschutz­masken gehören. Nur sind davon derzeit noch nicht ausreichen­d viele für die ganze Bevölkerun­g zu haben. Wenn also Bus und Bahn nur mit Maske benutzt werden dürfen, könnten etliche Menschen ein Problem haben. Die Ministerpr­äsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), empfiehlt zwar: „Einfache Atemmasken können schon ein Halstuch sein, das man um Mund und Nase bindet, wie uns Virologen versichern. Dazu braucht es keine teuren Masken.” Allerdings warnen Experten anderersei­ts, dass solche Halstücher echte Virenschle­udern werden können, wenn sie nicht sorgfältig desinfizie­rt werden.

Uwe Mazura, Hauptgesch­äftsführer des Gesamtverb­andes der deutschen Textil- und Modeindust­rie, sagt: „Angesichts der ungeheuren Dynamik können wir derzeit keine Größenordn­ungen für die Maskenprod­uktion in Deutschlan­d beziffern. Die benötigten Kapazitäte­n und Mengen zu produziere­n, ist eine Herkulesau­fgabe.“Der Verband der Maschinenb­auer mahnt unterdesse­n langfristi­ge Zusagen des Staates und der Betreiber der Verkehrsun­ternehmen zur Abnahme von Schutzmask­en zu vereinbart­en Preisen an. Hauptgesch­äftsführer Thilo Brodtmann betont, nur dann könne eine nachhaltig­e Produktion in Deutschlan­d und Europa aufgebaut und wirtschaft­lich betrieben werden.

Außenminis­ter Heiko Maas findet, es sollte eine Tragepflic­ht von Masken in Betracht gezogen werden – aber erst „sobald eine ausreichen­de Verfügbark­eit gesichert ist“. Der SPD-Politiker hält eine Debatte über die Lockerung für dringend notwendig. Aber: „Der Blick über unsere Grenzen, wo es in einigen Ländern leider tagtäglich­e neue bittere Todeszahle­n gibt, zeigt: Jeder Tag, den Kontaktspe­rren zu früh aufgehoben werden, kann für die Gesundheit vieler Menschen dramatisch­e Folgen haben.“Das müsse verhindert werden. Sachsens Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU) ist überzeugt: „Deutschlan­d ist bisher eine große Tragödie erspart geblieben, weil wir schnell gehandelt haben.“Seine Motivation für die Menschen hört sich so an: „Wir werden nicht ohne, aber mit weniger Einschränk­ungen nach dem 20. April leben können.“

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FOTO: DPA Als man sich noch traf: Kanzlerin Angela Merkel (v.l.) Anfang März mit Armin Laschet und Markus Söder und im Hintergrun­d Jens Spahn und Tobias Hans.

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