Rheinische Post Mettmann

Rituale helfen in der Quarantäne

Anselm Grün hat als Benediktin­er Erfahrung mit einem Leben in Rückzug und Einkehr. Daraus schöpft er Kraft.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF In vielen Kindergärt­en beginnt der Tag mit einem Morgenkrei­s. Die Kinder sitzen nebeneinan­der, jedes wird einzeln begrüßt und darf erzählen, wie es ihm geht. Dann wird ein Lied gesungen, das Miteinande­r kann beginnen. Manche Kitas machen das in den Corona-Wochen auch digital möglich. Sie setzen Stofftiere als Stellvertr­eter in einen Kreis und rufen die Kinder über eine Telefonkon­ferenz zusammen. Jedes Kind wird auch über diesen Weg einzeln begrüßt und darf sagen, wie es ihm geht. Und dann kann der Tag daheim beginnen – verlässlic­h, jeden Morgen um die gleiche Zeit.

„Rituale geben unserem Leben Form – und halten uns in Form“

Anselm Grün

Benediktin­er-Pater und Autor

Nach Pater Anselm Grün sind solche Ideen ein Segen. Denn sie retten ein Ritual in die diffuse, chaotische Corona-Zeit. Rituale haben religiöse Wurzeln. Sie sind Gewohnheit­en, die dem Leben Struktur geben, aber viel mehr als Routinehan­dlungen sind. „Rituale öffnen den Himmel über unserem Leben“, schreibt Grün in einem Buch, das er in Windeseile herausgebr­acht hat, um seinen Wissenscha­tz aus dem Klosterleb­en mit Menschen zu teilen, die sich von Kontaktver­bot und Quarantäne-Regeln herausgefo­rdert fühlen.

Muss das sein? Diesen Vorbehalt greift Grün in seiner Einleitung gleich auf. Für den Benediktin­er lag es einfach auf der Hand, seine Erfahrunge­n aus dem Klosterall­tag mit Menschen zu teilen, die Quarantäne oder die Zurückgezo­genheit des neuen Homeoffice-Lebens als Herausford­erung empfinden. Grün will die aktuelle Lage weder verharmlos­en noch schönreden. Es gehe in diesen Wochen nicht um Selbsterfa­hrung,

dafür stehe zu viel auf dem Spiel. Doch erleben viele Leute im Moment Entschleun­igung, Nähe und Distanz in Partnersch­aft und Familie, Einsamkeit in den eigenen vier Wänden in intesiver Form. Erfahrunge­n, die auch Ordensleut­e in ihren Gemeinscha­ften machen und für die sie Regeln entwickelt haben, die seit Jahrhunder­ten ihre Tauglichke­it beweisen. Die Regel eines durch Gebetszeit­en fest strukturie­rten Alltags etwa. „Rituale geben uns Form – und halten uns in Form“, schreibt Grün.

Auch das Zuhauseble­iben, beschränkt auf die eigenen vier Wände, findet ein Pendant im Klosterleb­en. Die Zelle ist Rückzugsor­t für Ordensleut­e, aber auch ein Ort, in dem sie allein sind mit sich und vor Gott. Das ist nicht immer leicht. Anselm Grün glaubt aber, dass es gut ist, wenn Menschen auch außerhalb des Klosters in ihrem Lebensumfe­ld Nischen finden, in denen sie still werden können. In denen sie üben können, ohne Ängste allein zu sein. In denen sie lernen, es mit sich selbst auszuhalte­n. Grün schreibt, dass es ein Prozess ist, die Zurückgezo­genheit als Zelle des Friedens zu erleben. Er ermutigt unter den neuen Bedingunge­n, in die nun alle geworfen sind, die Sinne für das eigene Umfeld zu schärfen. Was macht das Leben eng? Kann ich bei mir daheim sein? Besitze ich zu viel? Es ist gerade eine gute Zeit, sich solche

Fragen zu stellen. Viele Klostererf­ahrungen, die Grün auf die aktuelle Lage anwendet, haben mit Anteilnahm­e und Aufmerksam­keit zu tun. Etwa, wenn es um das Bedürfnis von Nähe und Distanz in einer Gemeinscha­ft geht. Grün glaubt, dass es vor allem darum geht, das Distanzbed­ürfnis des Nächsten überhaupt wahrzunehm­en. Denn manchmal äußert sich das nur indirekt. Erst wenn man wisse, wie viel Nähe man selbst braucht und

wie viel der andere, könne man darüber ins Gespräch kommen. Grün beschreibt dazu ein Video, das gerade zum Thema Homeoffice kursiert. In dem versteckt sich ein Vater geschickt wie ein Chamäleon vor seinem Kind. Doch sich der Nähe eines anderen durch einen Trick zu entziehen, hinterlass­e nur Scham, glaubt Grün. Erwachsene müssen lernen, zu ihren Bedürfniss­en zu stehen und sie in Einklang zu bringen mit denen der anderen.

Grün macht sich auch Gedanken über Gründe für den „Lagerkolle­r“, wie ihn Bergsteige­r bisweilen erleben, wenn ein Aufstieg zum Gipfel im Nebel stecken bleibt. Es komme dann darauf an, sich einzugeste­hen, dass ein Traum geplatzt ist, dass ein Ziel nicht erreicht werden kann. Aber nicht, um zu resigniere­n, sondern um sich neue Ziele setzen zu können.

Auch über Hamsterkäu­fe und Solidaritä­t hat sich Grün Gedanken gemacht. Er unterschei­det zwischen falscher, ängstliche­r Sorge, die zum Beispiel dazu führt, dass man anderen die letzten Nudeln vor der Nase wegschnapp­t, und der Sorge um die Armen und Schwachen, die Hilfe nötig haben. Solche Überlegung­en fördern kaum neue Erkenntins­se zutage, doch die gelassene, einfache Art, mit der Grün aus der Klosterzel­le heraus auf die aktuelle Wirklichke­it blickt, hat etwas Heilsames. Gerade in Corona-Zeiten.

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FOTO: DANIEL BISKUP Pater Amseln Grün im Kloster Münstersch­warzach bei Würzburg.

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