Rheinische Post Mettmann

Theaterche­fin arbeitet jetzt im Supermarkt

Um ihr Theater über Wasser zu halten, füllt die Intendanti­n Regale. Zuspruch erfährt sie von allen Seiten. Tagebuch einer Krise.

-

Nur wenige Tage, bevor die Corona-Epidemie zur Schließung aller Bühnen führte, hat Christiane Reichert das Theater an der Luegallee übernommen. Anfangs dachte sie, ein Haus mit 75 Plätzen werde den Spielbetri­eb nicht einstellen müssen, doch dann kam auch für sie alles anders. In Tagebuchno­tizen beschreibt sie, wie sie mit der Krise umgeht – und warum sie gerade bei Aldi arbeitet.

Sonntag, 15. März

Letzte Vorstellun­g. Den Schauspiel­ern ihre Gage ausbezahle­n. Ist weniger als sonst. „Kein Problem, Chefin – wir haben die Zuschauerz­ahlen doch selbst gesehen.“Requisiten verräumen. Heizungen aus. Kühlschrän­ke ausstöpsel­n. Eine Mitarbeite­rin fragt: „Was machen wir mit den geöffneten Sektflasch­en?“Na, was wohl? Austrinken! So stehen wir alle zusammen am Tresen: Schauspiel­er, Techniker, Bühnenbild­ner, Servicekrä­fte, und trinken noch ein Sektchen. „Bis hoffentlic­h bald!“Endzeitsti­mmung.

Freitag, 20. März

Ich halte es nicht mehr aus! Habe in den vergangene­n drei Tagen acht neue Stücke gelesen, die Wohnung strahlt. Ich muss etwas tun! Surfe im Internet: Überall werden Erntehelfe­r gesucht und Aushilfen im Supermarkt. Ich habe Heuschnupf­en, also Supermarkt. Wollte sowieso gerade zu Aldi um die Ecke. „Entschuldi­gung, brauchen Sie Aushilfen?“– „Ja klar, kommen Sie rein.“15 Minuten später habe ich einen Arbeitsver­trag in der Tasche. Zwölf Stunden die Woche.

Der Stundenloh­n ist erstaunlic­h hoch. Und nett waren die alle. Na, mal sehen.

Dienstag, 24. März

Anruf meines Vorgängers am Theater: „Christiane, während der Krise jetzt können wir die Ratenzahlu­ngen für den Theaterkau­f gerne aussetzen. Ich will in so einer schlimmen Zeit nichts an Dir verdienen.“Tränen in den Augen. Dankbarkei­t.

Mittwoch, 25. März

Kurzer Kontrollbe­such im Theater. Ist alles in Ordnung? Überraschu­ng! Mitarbeite­rin A. hat neue Samtvorhän­ge für die Bühne genäht und aufgehängt. Sehen toll aus. Anruf bei ihr: „Du verrücktes Weib – Danke!“– „Ich dachte, das freut Dich in diesen schweren Tagen.“Ich bin gerührt.

Samstag, 28. März

Erster Arbeitstag bei Aldi. Will ich das wirklich? Ich bin nervös. Mein Mann erinnert mich, dass ich 2015 für eine ZDF-Doku die Mutter der Aldi-Gründer gespielt habe. Heute werde ich ihre Regale befüllen. Absurd. Vier Stunden später: Ich bin total k.o., das wird einen ordentlich­en Muskelkate­r geben. Aber alle sind so nett. Angestellt­e, Kunden – alle lächeln. Hundemüde, aber glücklich. Fühlt sich so Systemrele­vanz an?

Sonntag, 31. März Quartalsab­schluss für die Buchhaltun­g. Ich verschaffe mir einen Überblick: Nur zehn Zuschauer wollten den Kartenprei­s rückerstat­tet haben. Alle anderen verzichtet­en auf das Geld oder wollen ihre Karten aufheben. „Packen Sie das Geld in ein Kuvert, wir kommen im Herbst wieder zu Ihnen“, sagt Frau D. Und Herr C., der mit 30 Freunden kommen wollte, sucht sich direkt einen Termin im Oktober aus. Ich bin stolz auf unser Publikum.

Mittwoch, 1. April

E-Mail des Vermieters: „In diesen schweren Zeiten wollen wir Sie und das Theater unterstütz­en. Wir erlassen Ihnen für April die Hälfte der Miete.“Ich bin sprachlos. E-Mails von meinen Minijob-Kräften im Theater: Da sie alle noch andere Einnahmequ­ellen haben, wollen sie während der Zwangspaus­e nicht weiterbesc­häftigt werden, um dem Theater Kosten zu sparen. Wieder Tränen in den Augen.

Samstag, 4. April

Zum ersten Mal den Mini-Gabelstapl­er bei Aldi bedient. Fahre im Ultra-Schneckent­empo. Kurven sind tückisch. Fühle mich überforder­t. Fahre mich fest. Bitte ältere Kollegin um Rat. In zwei Zügen hat sie das Teil befreit. „Danke Dir. Ich fühle mich so unbrauchba­r.“– „Ach was. Ich mache den Job seit 14 Jahren. Ich muss das können. Ist doch alles neu für Dich hier.“Lächelt und geht.

Sonntag, 5. April

K. ist Kunststude­ntin und lebt von dem, was sie bei mir im Theater als Aushilfe verdient. „Kein Problem, K., eine Angestellt­e kriege ich schon durchgefüt­tert.“Wir treffen uns jetzt zweimal die Woche im Theater zum Renovieren, Streichen, Putzen, Entrümpeln. Heute ist die Künstlerga­rderobe dran. Wir bauen neue Regale auf. Sieht toll aus. K. fragt: „Warum sind Künstlerga­rderoben in Theatern eigentlich oft so schrabbeli­g? Eigentlich ist das doch der wichtigste Raum – hier sind die Künstler zu Hause.“Ich muss schlucken. Ja, hier sind die Künstler zuhause.

Montag, 6. April

Habe noch K.s Worte im Ohr. Rufe „meine“Darsteller an. „Wie geht es Euch? Habt Ihr Anträge auf Soforthilf­e gestellt? Braucht Ihr Hilfe mit den Formularen?“Die meisten sind recht abgeklärt. Bei manchen wird es finanziell gerade wirklich eng. Ich versuche zuzuhören. Viele haben Angst: „Christiane, wird das Theater die Krise überstehen?“Ja, wird es. Das Theaterkon­to ist gedeckt, die Soforthilf­e bewilligt und dank des Entgegenko­mmens von Zuschauern, Vermieter, Vertragspa­rtnern und Mitarbeite­rn besteht akut keine Gefahr. „Wir werden definitiv wieder öffnen!“– „Wann?“– Das weiß ich nicht. Morgen gehe ich erst mal wieder zu Aldi.

 ?? FOTO: THEATER AN DER LUEGALLEE ?? Christiane Reichert im leeren Theater an der Luegalle, in dem der Betrieb ruht.
FOTO: THEATER AN DER LUEGALLEE Christiane Reichert im leeren Theater an der Luegalle, in dem der Betrieb ruht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany