Generation Corona
Die Teenager, die mit maximaler Freiheit aufgewachsen sind, sehen sich plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen. Wie es einer Generation geht, die sich endlich wieder umarmen, feiern und küssen möchte.
Das elfte Schuljahr im Ausland – abgebrochen. Die lange geplante Party zum 18. Geburtstag – fällt aus. Das Fitness-Studio – geschlossen. Abiturprüfungen müssen unter erschwerten Bedingungen geschrieben werden – die Abschlussfeier, für die schon manches Kleid gekauft ist, steht auf der Kippe.
Die junge Generation, die mit maximaler Freiheit und Selbstentfaltungsmöglichkeiten groß geworden ist, wird durch den Lockdown in der Corona-Krise gnadenlos ausgebremst. Ihre Lebenswirklichkeit hat sich radikal verändert. Ihre Werte fangen an, sich zu verschieben. „Junge Menschen, die ihre Smartphones, Apps und Social-Media-Kontakte haben, merken jetzt, wie wichtig persönliche Kontakte sind. Sie wollen sich endlich wieder umarmen, feiern und küssen können“, sagt der Jugendforscher Simon Schnetzer, der gerade die ersten Umfragen für seine fünfte Jugendstudie begonnen hat.
Dabei hat er auch erfahren, dass ein großer Teil der jungen Menschen die Zeit der Isolation nutzt. „Sie gehen viel raus und treiben Sport. Der Körperkult hat nicht abgenommen.“Im Gegenteil: Er helfe in der Isolation das Selbstwertgefühl hochzuhalten. Schnetzer habe in seinen Vorträgen Unternehmen bisher erklärt, dass die junge Generation auf „Spaß, Sinn und Sicherheit“setze. Durch die Corona-Krise aber rücke die Sicherheit an erste Stelle. Besonders schwierig sei für Schüler und Studenten, nicht zu wissen, was sie zurzeit motivieren solle, worauf sie sich freuen könnten, weil kein Ende in Sicht sei.
Das Jahr 2020 hat ein Virus – aber eine Reset-Funktion gibt es nicht. Diese quälenden Wochen, möglicherweise Monate des Ausnahmezustands werden sich in das kollektive Gedächtnis einer ganzen Generation einbrennen. Das Leben mit dem Corona-Virus ist schon vielfach mit einem Kriegszustand verglichen worden. Das ist übertrieben. Aber diese Phase stellt die Selbstverständlichkeiten, mit der die jungen Generation aufgewachsen ist, in Frage. Die Gewissheit, in einer Welt zu leben, in der man zuverlässig planen kann, ist zerstört.
Für die jungen Menschen ist der Verzicht auf Freiheit und die Nichtigkeit ihrer Planungen eine besondere Herausforderung. Sie selbst sind durch das Coronavirus gesundheitlich viel weniger gefährdet als ihre Eltern und Großeltern. Von den jungen Menschen wird ein Akt der Solidarität gefordert. Den stellt auch niemand in Frage. „Grundsätzlich gibt es für die Lockdown-Maßnahmen Akzeptanz in der jungen Generation“, sagt Schnetzer. Auch die innerfamiliären Beziehungen seien überwiegend sehr gut. Niemand möchte, dass den eigenen Eltern oder Großeltern durch das Virus etwas passiere.
Aber angesichts der enormen Einschränkungen und der zudem finanziell schwierigen Lage in vielen Familien nagt in den Jugendlichen die Gerechtigkeitsfrage. Sie schauen genau hin, ob die Politik in ihrem Krisenmanagement die Fairness im Blick behält. Der Erfolg des neuen Videos des Youtubers Rezo belegt, dass in der Frage Gerechtigkeit eine Flanke offen ist. Je nach dem, wie Schüler wohnten und wie die familiäre Situation sei, seien die Lernbedingungen derzeit sehr unterschiedlich, betont Schnetzer. Es gehe nicht nur um Bildungsungerechtigkeit zwischen Ländern und Schulformen, sondern auch zwischen Schüler derselben Klasse und Jahrgangstufe.
Die ohnehin bestehenden großen Unterschiede im föderalen Bildungssystem treten in der Corona-Krise umso stärker zutage. Rezo hat in seinem Video darauf aufmerksam gemacht. Eine 15-Jährige bringt es auf die Palme, dass sie unter den schwierigen Umständen die Prüfungen für den mittleren Abschluss ablegen muss, während die Zehntklässler in anderen Bundesländern davon verschont bleiben. Durch solche Regelungen
Jugendforscher
wächst der ohnehin angestaute Frust über den Lockdown zu einem Misstrauen gegenüber der Politik.
Von vielen Schülerinnen und Schülern wird genauso viel gefordert wie vor der Corona-Zeit, insbesondere von jenen, für die wichtige Prüfungen anstehen. Sie machen aber die Erfahrung, dass die Unterstützung durch die Schule nicht mithalten kann. Selbst in Schulen, die eine gute digitale Ausstattung haben, sind die Lehrer oft damit überfordert, Online einen zielführenden Unterricht anzubieten. Längst nicht alle machen sich die Mühe, sich erledigte Aufgaben zum Korrigieren schicken zu lassen. Solch ein Ungleichgewicht erzeugt den Eindruck, dass die Lasten der Corona-Krise einfach bei den Schülern (und Eltern) abgeladen werden. „Von der Schule oder von der Uni erfahren die jungen Menschen nur wenig Unterstützung. Sie müssen viel Selbstdisziplin aufbringen, in dieser Phase zu lernen“, sagt Schnetzer. „Hilfreich wäre es, wenn die Bildungseinrichtungen Anleitungen zur Selbstorganisation geben würden.“
Der Wunsch, den gewohnten Alltag, die Zukunftsperspektiven, kurzum sein Leben zurückzubekommen, ist selbstverständlich nicht nur ein Bedürfnis der jungen Generation. In jungen Jahren werden in der Regel aber mehr Weichen gestellt, als wenn man schon älter ist. Deshalb ist der Lockdown für diese Generation so einschneidend. Es ist ein Jahr der verpassten Gelegenheiten, des Aufschiebens, des Abwartens, der Unsicherheit. Für einen jungen Menschen, dessen innere Uhr gerade auf Aufbruch, Zukunft und Tatendrang steht, ist dieser wabernde Zustand des Corona-Lockdown besonders schwer zu akzeptieren.
Umso wichtiger wäre es, dass es den Bildungseinrichtungen gelingt, Kurs und Richtung vorzugeben, Klarheit zu schaffen und vor allem zu zeigen, dass es gerecht zugeht. Den föderalen Flickenteppich mit noch mehr Fetzen zu stopfen, ist in dieser Phase kontraproduktiv. Die Akzeptanz für die Corona-Maßnahmen wird man nur erhalten können, wenn die bildungspolitische Steuerung der Krise nachvollziehbar und bundesweit einheitlich gelingt.
„Von der Schule oder Uni erfahren junge Menschen nur wenig Unterstützung“
Simon Schnetzer