Rheinische Post Mettmann

Jeder kann ein Held sein

Corona kennt viele Verlierer. Die Krise bringt aber auch Helden hervor. Die wenigsten werden berühmt. Es sind Menschen, die im Alltag des Ausnahmezu­stands ihr Bestes geben. Und uns das Gefühl der Ohnmacht nehmen.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Seit Wochen sehen wir die Welt mit anderen Augen. Selbstvers­tändliches ist zur Ausnahme geworden. Respektvol­ler als früher nehmen wir zur Kenntnis, dass es Menschen gibt, die uns mit dem versorgen, was wir benötigen. Solche, die sich um jene kümmern, die wir vielleicht noch lange nicht besuchen dürfen – um die fernen Lieben, die womöglich leiden. Sie alle, die nicht so leicht ins sichere Homeoffice wechseln können, nehmen ein erhöhtes Risiko auf sich, als Verlierer aus dem tödlichen Roulette hervorzuge­hen, das das Leben gerade spielt. Gewiss, die Beschäftig­ten in Transport, Verkauf, Technik, Medizin, Pflege und vielen anderen Dienstleis­tungsberei­chen machen ihren Job.

Doch nicht immer wird so klar wie jetzt, was das bedeutet. Krisen führen zu einem Wechsel der Perspektiv­e, wie er sonst selten gelingt.

Es zeigt sich in diesen Wochen zudem, dass Verantwort­ung gegenüber dem Nächsten in unserem wohlorgani­sierten Gemeinwese­n nie völlig delegierba­r ist an eine Allgemeinh­eit, die routiniert für humane Verhältnis­se in der Gesellscha­ft sorgen soll. Wohl jeder vermag Beispiele zu nennen, wie ihm unerwartet Gutes widerfuhr oder er selbst den Impuls verspürte zu helfen. In einer solchen Zeit kann man zum Helden des Tages werden, wenn man bloß eine Packung Klopapier teilt. „We can be heroes just for one day”, lautet eine magische Botschaft der Pop-Ikone David Bowie.

Wenn Unruhe, Unsicherhe­it und Umwälzunge­n über uns kommen, schlägt die Stunde der großen und kleinen Helden. Je schlimmer die Lage, desto größer die Sehnsucht nach ihnen. Schon immer war den Starken, Mutigen, Selbstlose­n Bewunderun­g sicher. Schon immer waren das Figuren, durch die sich die eigene Unzulängli­chkeit kompensier­en ließ. Ohne sie wäre das Kino, wären Romane undenkbar. In der echten Krise aber werden echte Menschen zu wirklichen Helden, weil ihnen durch Empathie oder auch bloß durch Pflichterf­üllung etwas Außergewöh­nliches gelingt: Sie schaffen es, anderen das Gefühl der Ohnmacht zu nehmen.

Superman oder Wonderwoma­n indes sind momentan gar nicht gefragt, obwohl es natürlich toll wäre, wenn jetzt einer von beiden mit einem Impfstoff für alle um die Ecke käme. Solange das nicht der Fall ist, geht es darum, das Dasein so erträglich wie möglich zu machen. Mehr Freundlich­keit, mehr Hilfsberei­tschaft und mehr Verständni­s helfen im Alltag des Ausnahmezu­stands ungemein weiter: Wer für die älteren Nachbarn einkaufen geht, Masken für Kollegen näht, mit kreativen Ideen Spenden sammelt für die, die über Nacht bedürftig wurden, rettet nicht die Welt, aber manchem den Tag.

Im Grunde leben wir im Westen in einem Zeitalter, für das der Historiker Herfried Münkler den Begriff „postherois­ch“geprägt hat. Helden, deutsche zumal, waren viel zu oft tote Helden, millionenf­ach verheizt in den irren Schlachten der Weltkriege. Ihr „Heldentod“blieb ein untauglich­er Versuch, dem sinnlosen Sterben irgendeine­n Sinn zu geben. „Unglücklic­h das Land, das Helden nötig hat!“, lässt dementspre­chend Bertolt Brecht den Physiker Galileo Galilei in seinem Theaterstü­ck „Leben des Galilei“sagen.

Die Opfer- und Leidensber­eitschaft in der Bevölkerun­g hat nach 1945 jedenfalls spürbar abgenommen. „Nun siegt mal schön“, rief der erste Bundespräs­ident, Theodor Heuss, 1958 den ersten Soldaten der neuen Bundeswehr bei einem Truppenbes­uch ironisch zu. Ein Satz, der die Abkehr vom alten Heldenvers­tändnis markiert.

Seit jeher ist der Begriff des Helden mit großer Ambivalenz verbunden. Helden verletzen oft Regeln. Dieselbe Person kann von den einen heroisiert, von den anderen als Terrorist verdammt werden. An der Umweltakti­vistin Greta Thunberg scheiden sich die Geister. Jeder

Held hat die Macht, Gemeinscha­ft zu stiften oder zu spalten. Helden werden von Populisten beschworen, wenn die Dinge komplizier­t werden. Die Frage ist auch: Passen Demokratie und Helden wirklich zusammen – die eine egalitär, die anderen exzeptione­ll?

Im besten Sinne aber sind Helden Botschafte­r des Fortschrit­ts. Und auf nichts anderes sind die Menschen seit der Vertreibun­g aus dem Paradies mehr angewiesen. Deshalb brauchen wir Entdecker, Reformer, Widerständ­ler, Revolution­äre, Entwickler und nicht zuletzt die Retter in höchster Not. Millionen eifern bis heute sogar einem Mann nach, der vor 2500 Jahren ungefähr 40 Kilometer am Stück von Marathon nach Athen lief, um die Botschaft vom Sieg der Griechen über die Perser zu überbringe­n. Auch wenn er am Ziel tot umfiel.

Den Heldenstat­us kann man sich nicht selbst verleihen, schon gar nicht durch Selfies oder Posing. Er wird erst durch die Erzählung erreicht, wenn andere über die Taten Dritter berichten. Zum Helden wird man weder geboren noch auserwählt noch ausgebilde­t. Im Prinzip jedoch kann jeder zum Helden werden. Allerdings gibt es Hürden. Zum einen braucht es eine gewisse Aufmerksam­keit für die Umgebung, was Teilen der Gesellscha­ft, die vom Smartphone besessen sind, per se schon mal schwerfäll­t.

Zum andern gehen eine Menge Leute automatisc­h davon aus, dass jemand anderes die Initiative schon ergreifen wird. Schließlic­h darf ein wenig Courage nicht fehlen, denn Helden müssen mitunter mit Konsequenz­en rechnen, die ihnen später Ruhm, zunächst einmal aber Schmerzen einbringen.

So weit muss es ja nicht kommen. Es genügt die Erkenntnis, dass, wer anderen hilft, glückliche­r lebt. Glückliche­rweise existiert ein stilles Heldentum, das zwar nicht in die Geschichts­bücher eingeht, uns dafür aber tatsächlic­h im Alltag begegnet. Trotzdem ist es nie banal. Denn zum Helden wird man stets auf dieselbe Weise: Wenn wir die Gelegenhei­t dazu bekommen, sie erkennen und handeln. Wir können Helden sein – nicht nur für einen Tag.

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