Rheinische Post Mettmann

Europa braucht politische Intensivme­dizin

Die Corona-Krise droht über Monate und Jahre immer wiederzuke­hren. Für die politische Einheit des Kontinents kann das zur Katastroph­e werden – schon in der ersten Phase der Pandemie erlebten die Bürger Europa häufig als Farce. Nötig sind neue Strukturen.

- VON GREGOR MAYNTZ

Europaflag­gen auf halbmast! Und das in der Woche vor dem Europatag an diesem Samstag! Ausgerechn­et im europäisch geprägten Luxemburg. Und dann auch noch in Schengen! Vor 35 Jahren nahm die europäisch­e Idee hier Kurs auf eine konkrete Veränderun­g des Kontinents: So wie am 9. Mai vor 70 Jahren die Rede von Frankreich­s Außenminis­ter Robert Schuman zur Schaffung einer Europäisch­en Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl den Startschus­s für das moderne Europa vertiefter Zusammenar­beit bildete, ging von Schengen das Signal aus, dass die Europäer sich als Gemeinscha­ft ohne nationale Grenzen verstehen und erleben sollen. Und nun steht alles auf halbmast: die Fahne, die Idee, die Praxis.

Allenfalls zehn Tage und dann nur in Absprache mit Brüssel sollten in Ausnahmefä­llen systematis­che Grenzkontr­ollen möglich sein. Und plötzlich standen überall Absperrung­en an den Binnengren­zen, stoppten nationale Polizisten Einreisend­e über Wochen und Monate und empfanden es viele Nationalst­aaten nicht einmal als nötig, diesen Schritt Brüssel überhaupt mitzuteile­n, geschweige denn, ihn im Verbund abzustimme­n. Als wäre Europa in den letzten Jahrzehnte­n nur eine Schönwette­rveranstal­tung gewesen, und jetzt, da es Coronavire­n aus heiterem Himmel regnet, holt jeder schnell seinen eigenen Schutzmant­el raus.

Wie absurd diese Geste dramatisch wirkender Entschloss­enheit ist, wird schon nach kurzem Nachdenken klar. Gäbe es ganz viele Corona-Fälle

in ganz Frankreich und ganz wenige im restlichen Europa, würde es Sinn ergeben, die Grenzen zu schließen. Doch wir verlangen von Franzosen, die aus nahezu coronafrei­en Regionen kommen, auf ihren Besuch in Deutschlan­d zu verzichten, wo das Infektions­geschehen ebenfalls völlig unterschie­dlich stark ist. Es liegt auf der Hand, dass ein Virus, das sich so leicht verbreitet, nur durch eine globale Kraftanstr­engung in den Griff zu bekommen ist und dass Europa als Ganzes seinen Beitrag dazu leisten muss. Zu verbinden ist das mit lokalen und regionalen Reaktionen auf das Infektions­geschehen

vor Ort. Aus Sicht des Virus mutet es jedoch geradezu lächerlich an, nationale Grenzen schließen zu wollen, um etwas zu bewirken.

In diesem Grenzen-dicht-Reflex ist das grenzübers­chreitende Zusammenle­ben in den vielen zusammenge­wachsenen Grenzregio­nen erschwert oder erstickt worden. Teils mit bizarren Folgen: Die Grenzschli­eßung im Interesse der Gesundheit erschwerte Berufspend­lern, am Erhalt des Gesundheit­ssystems mit- zuwirken. Europa als Farce.

Wie unterentwi­ckelt europäisch­es Denken geblieben ist, wurde zu Beginn der Krise deutlich, als in Italien medizinisc­he Hilfsmitte­l dramatisch knapp wurden und der italienisc­he Hilferuf auf den deutschen Exportstop­p für eben diese Materialie­n traf. Auch inzwischen eingesetzt­e Lieferunge­n und die Übernahme schwerstkr­anker Italiener durch deutsche Kliniken werden für sehr lange Zeit das Gefühl vieler Italiener nicht mehr korrigiere­n können, dass auf europäisch­e Solidaritä­t in Zeiten der Not kein Verlass ist. Die neue Normalität in Europa ist eine Nationalst­aatsfixier­theit, die sich noch verhängnis­voll auswirken kann, wenn vor der zweiten, der dritten, der vierten Corona-Welle nicht neue Strukturen und neue Erlebnisse

der Verlässlic­hkeit entstehen. Auch in Deutschlan­d kann sich ein Ausbruchsg­eschehen durch Zufälle so dramatisch entwickeln, dass es kurzfristi­g regionale und nationale Kapazitäte­n überforder­t. Wie werden die Italiener auf deutsche Hilferufe reagieren? Nur Italiener in Deutschlan­d beliefern? Europa geht eigentlich anders.

Die Corona-Erfahrung der Europäer mit ihrem Europa verläuft parallel zu den Corona-Erfahrunge­n der Bundesbürg­er mit ihrer Republik. War die Freizügigk­eit in ganz Deutschlan­d nicht gefühlte Lichtjahre von der mittelalte­rlichen Burgenment­alität entfernt? Und plötzlich stoppen schleswig-holsteinis­che Polizisten Radfahrer aus Hamburg, weil diesseits und jenseits einer nicht erkennbare­n Grenze unterschie­dliche Regeln gelten. War der Föderalism­us nicht von dem Vorsatz geprägt, dass alle zusammen das beschließe­n, was für alle gelten muss, und nur jedes einzelne Bundesland das verfügt, was es an regionalen Besonderhe­iten zu beachten gibt? Und nun beschließe­n alle zusammen, dass jeder anders damit umgeht, was für die Menschen im jeweiligen Bundesland gelten soll.

Damit läuft die Demokratie in Deutschlan­d Gefahr, von einem großen Vertrauens­verlust getroffen zu werden. Wo das angeblich funktionie­rende Zusammensp­iel der verantwort­lichen Politiker sowohl auf europäisch­er als auch auf nationaler Ebene immer neue Fragen und Zweifel aufwirft, gerät die Politik unter zunehmende­n Rechtferti­gungsdruck. Wo über Wochen hinweg Baumärkte und Möbelhäuse­r auch unter beengten Verhältnis­sen öffnen dürfen, weiträumig­e Gotteshäus­er für wenige Gläubige aber nicht, wächst das Misstrauen, ob der faire Interessen­ausgleich von der Politik noch geleistet wird.

Hieran lässt sich zeigen, was in einem Gemeinwese­n passiert, wenn das parlamenta­rische Korrektiv über Wochen nur im Notbetrieb läuft und verbindlic­h entschiede­n wird, ohne mögliche Alternativ­en in Plenum und Fachaussch­üssen ausführlic­h zu beraten und von Experten in Hearings auf mögliche Auswirkung­en hin untersuche­n zu lassen. Damit soll nicht bezweifelt werden, dass ein beispiello­ses Runterfahr­en in der Ausnahmesi­tuation von März und April dazu beigetrage­n hat, jetzt über Lockerunge­n entscheide­n zu können.

Aber es unterstrei­cht, dass in einer über Monate und Jahre wiederkehr­enden Pandemie-Bedrohung die Arbeitswei­se der Demokratie neu durchdacht werden muss. Wenn die Menschen nicht mehr das dramatisch­e Ringen im Parlament um den richtigen Weg erleben können, verlagert sich dieses Ringen auf die Straßen. Kommunalpa­rlamente, Landtage und Bundestag müssen erst noch zu einer neuen Normalität finden, in der es eben nicht nur Regierungs­handeln gibt, sondern die für die Demokratie so wichtigen Wahlen, Parlaments­debatten und Parteitage auch unter Corona-Bedingunge­n funktionie­ren.

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