Südkoreas Minderheiten haben Angst
Ein Corona-Fall im Partyviertel von Seoul schürt die Angst vor der zweiten Welle. Vor allem Schwule fürchten noch mehr Stigmatisierung.
SEOUL „Homo Hill“wird der leichte Anstieg im Ausländerviertel Itaewon der südkoreanischen Hauptstadt Seoul spöttisch genannt. Es ist der Hügel, auf dem – wohl weltweit einmalig – drei Welten in einer Hand voll Seitengassen aufeinandertreffen: Am südlichen Ende hat sich zwischen Halal-Restaurants und der größten Moschee der Metropole die muslimische Diaspora niedergelassen. Einen Steinwurf entfernt locken Prostituierte vor simplen Verschlägen Kundschaft an. Und dazwischen wird ein Straßenzug von Schwulenund Transgenderbars gesäumt: ein Ort der Freiheit, an dem die Zwänge der konfuzianischen Gesellschaft weit entfernt scheinen.
Seit Freitag jedoch sind jedoch die Clubs „King“, „Queen“und „Trunk“weiträumig abgesperrt. Der „Homo Hill“ist zum Symbol geworden, wie nur eine Corona-Infektion durch Unachtsamkeit die Gesamtsituation im Land vollständig kippen lassen kann. Und für viele südkoreanische Homosexuelle kommt eine zweite Angst hinzu: „Jeder, den ich kenne, hat regelrechte Panik“, sagt der Künstler Heezy Yang aus Seoul. „Wir wissen, welche Folgen die HIV-Epidemie in unserer Community hatte. Und auch während der Mers-Epidemie haben christliche Gruppen versucht, Stimmung gegen Homosexuelle zu machen.“
Was ist geschehen? Ein 29-jähriger Mann hatte vor einer Woche im Ausgehviertel Itaewon die Nacht durchgefeiert. Am Donnerstag dieser Woche wurde er schließlich positiv auf das neuartige Virus Sars-CoV-2 getestet. Am folgenden Morgen bestätigte das koreanische Zentrum für
Seuchenprävention, dass 14 weitere Personen von dem jungen Koreaner infiziert wurden, darunter ein Oberfeldwebel der Armee.
Nach Angaben der Regierung muss sich die Öffentlichkeit darauf einstellen, dass viele weitere Infektionsfälle folgen könnten. Schließlich hatte der junge Mann insgesamt fünf Clubs und Bars aufgesucht und möglicherweise mit 2000 Menschen Kontakt gehabt. Besonders heikel in der homophoben Gesellschaft Südkoreas: Die Clubs, die von ihm besucht wurden, gehören der Schwulenszene an.
Südkorea gilt bislang als Musterschüler bei der Virusbekämpfung. Dank koordinierten Handelns der Regierung, aggressiven Trackings von Infektionssträngen mithilfe von Überwachungsdaten sowie einer radikalen Transparenz über Neuansteckungen hat es das Land geschafft, die Ausbreitung des Coronavirus de facto einzudämmen. Vier Tage lang gab es in Südkorea keine einzige Infektion mehr, nur noch importierte Fälle aus dem Ausland.
Nun jedoch wird die Hightech-Nation erstmals auf die Probe gestellt, eine zweite Infektionswelle
zu verhindern. In einem ersten Schritt sind die Behörden die Namenslisten der betroffenen Lokalitäten durchgegangen, auf denen sich seit dem Ausbruch der Pandemie jeder Gast mit seiner Telefonnummer eintragen muss. „Es gibt jedoch möglicherweise blinde Flecken, zum Beispiel durch Ausländer oder andere Kunden, die kein Handy in Korea haben“, heißt es von einem Beamten der Seouler Stadtregierung. Zudem habe man nicht alle Handynummern zurückverfolgen können. Jedenfalls hat die Regierung nun auf der Grundlage von
Telekommunikationsdaten Massen-SMS an möglichst viele potenziell Infizierte geschickt, um sie zu Corona-Tests aufzufordern.
Für Heezy Yang, der auch als Aktivist in der LGBT-Bewegung unterwegs ist, stellt das ein Dilemma dar: Wer sich bei den Behörden meldet, riskiert ein Zwangs-Outing. Schließlich wird jeder Neuinfizierte von den Behörden veröffentlicht – anonymisiert zwar, doch mit Alter, Nationalität, Wohnbezirk und Bewegungsabläufen während jener Nacht. „Sie können ihre Arbeit, Familie, Freunde, ja selbst ihr Leben verlieren“, sagt er. Man könne sich glücklich schätzen, wenn sich niemand der Betroffenen das Leben nehme. „Als sich Heterosexuelle infiziert haben, wurden die dann als ganze Gruppe stigmatisiert?“, fragt er rhetorisch. Im Netz jedoch passiere genau das.
Südkorea ist nach wie vor eine homophobe Gesellschaft. Sexuelle Minderheiten werden nicht durch ein Antidiskriminierungsgesetz geschützt. Die größte Feindschaft gegen Schwule kommt ausgerechnet aus den großen Freikirchen des Landes – jenen Organisationen also, die selbst Opfer von Hassattacken wurden, nachdem sie sich trotz mehrmaliger Aufforderung des Staates geweigert hatten, Gottesdienste auszusetzen.
Ob der Infektionsstrang tatsächlich zu einer flächendeckenden zweiten Welle führen wird, bleibt abzuwarten. Bei der Bekämpfung setzt Südkorea, das eine Ausgangssperre bislang vermeiden konnte, nach wie vor auch auf Freiwilligkeit: Statt alle Clubs und Bars zu schließen, hat die Regierung lediglich eine Empfehlung herausgegeben, dies für die nächsten vier Wochen zu tun.