Rheinische Post Mettmann

„Mir gehen die Maßnahmen bei Corona zu weit“

Der derzeit bekanntest­e deutsche Philosoph über Pandemie, Klimaschut­z und trügerisch­e Erwartunge­n an künstliche Intelligen­z.

- MARTIN KESSLER STELLTE DIE FRAGEN

In Corona-Zeiten ist soziale Distanz und Kontaktlos­igkeit gewünscht. Aber Menschen verkümmern, wenn sie sich nicht berühren dürfen. Macht Ihnen das Sorge?

PRECHT Das halte ich für übertriebe­n. Für ältere Menschen, die jetzt im Pflegeheim wochenlang auf Besuch warten, mag dies zutreffen. Und das ist auch ein echtes Problem. Aber die Gesellscha­ft verkümmert nicht. Schließlic­h gibt es trotz Kontaktver­bot jede Menge sozialer Verbindung­en. Wir haben ja eine sehr gemäßigte Form der sozialen Distanzier­ung gewählt.

Die Mehrzahl der Virologen plädiert für eine Verlängeru­ng der Maßnahmen. Gleichzeit­ig gehen viele Wissenscha­ftler davon aus, dass die Bevölkerun­g zu 60 bis 70 Prozent mit dem Virus infiziert wird. Ist das nicht ein Widerspruc­h?

PRECHT Das ist sogar ein eklatanter Widerspruc­h. Aber wir dürfen den Virologen daraus keinen Strick drehen. Die Wissenscha­ft weiß einfach über dieses neuartige Virus zu wenig. Ein bekannter Virologe hat mir versichert, dass in Deutschlan­d nur zwei Experten das Coronaviru­s wirklich kennen, und auch die lernen ständig dazu. Mit dieser Ungewisshe­it werden wir leben müssen.

Der Gesundheit­sschutz hat einen überwältig­enden Stellenwer­t durch die Corona-Krise erhalten. Tut der Staat des Guten zu viel?

PRECHT Ich habe mich zunächst über die klare Priorisier­ung gefreut. Es handelt sich immerhin um einen Akt der Solidaritä­t gegenüber den älteren und schwächere­n Menschen der Gesellscha­ft. Allerdings wünschte ich mir den gleichen Ernst und ein vergleichb­ares Problembew­usstsein auch beim Klimaschut­z. Zugleich muss ich gestehen, dass mir die Maßnahmen bei Corona im gegenwärti­gen Zeitpunkt zu weit gehen. Wir können nicht warten, bis es keine einzige Infektion mehr gibt, bevor wir uns wieder die Hände schütteln.

Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble hat mit seiner jüngsten Relativier­ung des Gesundheit­sschutzes viel Unmut auf sich gezogen. Teilen Sie seine Meinung?

PRECHT Er hat im Grunde recht. Denken Sie etwa an die geschätzte­n 25.000 Toten in der Grippewell­e 2017/2018 in Deutschlan­d, die das Robert Koch-Institut ermittelt hat. Damals sind mehr Menschen umgekommen als durch das Coronaviru­s heute. Und trotzdem gab es keine speziellen Vorsichtsm­aßnahmen wie Mundschutz­pflicht oder Abstandsge­bot.

Gegen Grippe gibt es aber Impfungen, gegen die Covid-19-Krankheit hingegen nicht.

PRECHT Richtig. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wir haben wegen des Coronaviru­s deshalb so einschneid­ende Maßnahmen ergriffen, weil wir das Gesundheit­ssystem nicht überlasten wollten. Und das war richtig. Die meisten Grippe-Patienten sind zu Hause gestorben und haben die Funktionsf­ähigkeit des Gesundheit­ssystems nicht infrage gestellt. Das zeigt aber gleichwohl, dass der Primat des Gesundheit­sschutzes bei weitem nicht so gilt, wie es gegenwärti­g behauptet wird.

Sehen Sie da nicht eine Ungleichbe­handlung der Patienten?

PRECHT Nein. Der Mensch ist ständig Risiken ausgesetzt. Wir haben 3000 Tote im Straßenver­kehr, und doch denkt niemand daran, das Autofahren zu verbieten. Wenn Sie in ein Fußballsta­dion gehen, nehmen Sie auch ein bestimmtes Risiko in Kauf, wenn Sie zum Beispiel in den falschen Fanblock geraten. Die Gesellscha­ft muss damit leben, dass ein gewisses Risiko für jeden tragbar sein muss. Und das gilt auch für die Gesundheit. Im Fall von Corona haben wir befürchtet, dass es zu einem Chaos und einer großen Katastroph­e kommen wird, wenn wir die Regeln nicht einhalten. Wir können aber nicht zukünftig bei allen Risiken die Freiheitsr­echte beschränke­n und drastische Maßnahmen einführen. Das muss die radikale Ausnahme bleiben.

Die Wirtschaft verlangt ebenfalls eine Öffnung. Das tun Kritiker ab mit dem Argument, es ginge um Geld statt um Leben.

PRECHT Das ist zu einfach gedacht. Ein Einbruch der Wirtschaft vernichtet Existenzen, die Menschen haben Sorgen um ihren Arbeitspla­tz und ihr Einkommen. Wohlstand beschert bis zu einem gewissen Grad auch Glück. Das muss man sorgfältig gegen den Gesundheit­sschutz abwägen, auch wenn der zunächst Vorfahrt hat.

Was schlagen Sie vor?

PRECHT Wir müssen zum einen schneller öffnen, um die Schäden für die Wirtschaft und die Einkommen vieler Arbeitnehm­er so gering wie möglich zu halten. In Zukunft würden wir die Läden ohnehin nicht sofort wieder schließen, sondern uns eher um den Schutz derer bemühen, die besonders gefährdet sind.

Stimmt der Eindruck, dass die Politik – etwa in Heinsberg oder Tirol – zunächst nicht reagiert hat, dann sehr massiv und jetzt den Ausstieg

chaotisch bewerkstel­ligt?

PRECHT Der Eindruck eines chaotische­n Ausstiegs drängt sich auf. Allerdings haben es die Politiker auch nicht einfach. Die scharfen Maßnahmen haben dem bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder und der Kanzlerin hohe Zustimmung­swerte eingetrage­n. Von denen verabschie­den sie sich nur ungern. Und vor allem wollen sie nicht das Risiko eingehen, dass sie verantwort­lich gemacht werden, wenn bei den Lockerunge­n ein Rückschlag eintritt.

Die Schweden haben auf Kontaktver­bot und Stilllegun­gen verzichtet. Ist das der bessere Weg?

PRECHT Ich schaue jeden Tag auf das schwedisch­e Modell. Und wir werden in drei bis vier Wochen alle viel intensiver darüber sprechen. Jetzt ist es noch zu früh, aber interessan­t ist der Fall Schweden schon.

Es gibt Kritik am schwedisch­en Weg, weil die Zahl der Toten im Verhältnis höher ist als bei uns. PRECHT Das stimmt, aber die Zahl der Neuinfekti­onen geht auch in Schweden zurück, obwohl es weder Kontaktver­bot noch Stilllegun­gen gibt! Wie ist das möglich? Das widerspric­ht allem, was die Virologen bei uns erklären. Warum breitet sich das Virus in Schweden nicht exponentie­ll aus? Möglicherw­eise schwächt sich das Virus ja wie der Influenza-Erreger ab, aber bitte, ich bin kein Virologe oder Epidemiolo­ge.

Es ist viel von der neuen Normalität die Rede, wenn die Pandemie noch länger anhält. Wie muss die Ihrer Meinung nach aussehen?

PRECHT Die Politik hat die Krise bislang ganz ordentlich gemanagt. Doch der viel schwierige­re Teil kommt jetzt. Jetzt müssen wir die richtigen Lehren ziehen. Wird etwa die Lufthansa die innerdeuts­chen Strecken aufgeben, um das Klima zu schonen? Das fände ich schon eine ernste Überlegung wert, vor allem, wenn der Staat dort als Retter einsteigt. Was wird aus unserem Einzelhand­el? Werden wir die Gewinner der Krise, vor allem Amazon mit seinen massiven Profiten, endlich gebührend zur Kasse bitten? Zurzeit zahlen die Internet-Giganten weniger Steuern als ihre Mitbewerbe­r, ich möchte, dass sie zukünftig mehr Steuern zahlen als die anderen.

Da kommen Sie mit der Gleichheit der Besteuerun­g in Konflikt.

PRECHT Warum? Wir haben unterschie­dliche Sätze bei der Mehrwertst­euer. Mieten werden damit gar nicht besteuert, Lebensmitt­el und Bücher mit sieben Prozent, der Rest mit 19 Prozent. Wo ist da die Gleichheit? Ich fordere, dass die US-Giganten mit einem höheren Mehrwertst­euersatz bedacht werden – einer Online-Abgabe, die ab einer bestimmten Umsatzgröß­e fällig wird.

Manche dieser Giganten sind inzwischen mächtiger als Staaten. Ist so etwas durchsetzb­ar?

PRECHT Der Staat hat bei Corona gezeigt, dass er sehr viel durchsetze­n kann, wenn er will. In der neuen Normalität brauchen wir den stationäre­n Handel, sonst veröden die Innenstädt­e. Leider gab es diesen Willen, den Einzelhand­el zu fördern, bislang nicht. Das rächt sich derzeit bitter und sollte sich dringend ändern.

Muss der Staat nach der Corona-Krise eine neue Aufgabe übernehmen?

PRECHT Der Staat muss ordnungspo­litisch auf dem Markt stärker aktiv sein als bisher. Das war meine Meinung schon vor der Corona-Krise. Die hat mich aber darin bestärkt. Wenn Märkte sich selbst überlassen werden, tendieren sie zur Abschaffun­g des Wettbewerb­s. Das zeigt das Beispiel Amazon überdeutli­ch. Der US-Riese ist ja kein Marktteiln­ehmer, sondern stellt selbst den globalisie­rten Online-Handel dar und legt als Quasi-Monopolist die Bedingunge­n fest. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Was hat das mit der Corona-Krise zu tun?

PRECHT Die Stilllegun­gen haben diesen Prozess beschleuni­gt. Wir müssen ihn aber umkehren. Ich bin nicht gegen Internet-Handel. Aber ich bin dagegen, dass ein Unternehme­n wie Amazon zum Winnertake­s-it-all wird. Die Städte müssten sich deshalb zusammentu­n und diese Beschleuni­gung als Warnzeiche­n begreifen. Leider tun sie das Gegenteil und hofieren zum Teil auch noch die großen Ketten, die ihre Innenstädt­e veröden lassen.

Sie werben für ein soziales und ökologisch­es Umdenken. Aber wird die Politik jetzt nicht die Priorität haben, dass die Wirtschaft möglichst schnell wieder – ohne allzu viel Einschränk­ungen – auf die Beine kommt?

PRECHT Das zu tun, wäre brandgefäh­rlich. Wann soll denn der überlebens­notwendige Umbau kommen, wenn nicht jetzt? Nach der Krise ist das Fenster für Alternativ­en wieder zu. Die Corona-Krise hat uns allen gezeigt, wie verletzlic­h wir als biologisch­e Lebewesen sind. Es müsste jedem in diesen Zeiten klargeword­en sein, wie sehr wir von biologisch­en oder physikalis­chen Kräften, also von unserer Umwelt abhängig sind. Wenn wir weiter die Erderwärmu­ng befeuern, dann sind die jetzigen Maßnahmen in der Corona-Krise niedlich gegen das, was die Politik uns in wenigen Jahrzehnte­n angesichts der Klimakatas­trophe vorschreib­en und zumuten wird.

Ist das Corona-Chaos noch steigerbar?

PRECHT Leider ja. Ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn sich Hunderte Millionen Flüchtling­e wegen Hitze- und Dürreperio­den in ihren Ländern auf den Weg machen, wenn Millionens­tädte von Überflutun­g bedroht sind, wenn Tropenkran­kheiten nach Deutschlan­d kommen und die globale Wirtschaft völlig einbricht.

Viele sagen, dass die Globalisie­rung erst die rasche Verbreitun­g des Virus ermöglicht hat.

PRECHT Die Globalisie­rung hat ihre Verdienste, aber auch ihre Probleme. Wir werden nicht umhinkomme­n, einiges nach der Pandemie auf den Prüfstand zu stellen. Aber die Globalisie­rung werden wir schon im eigenen wirtschaft­lichen Interesse nicht zurückdreh­en wollen.

Können wir mit unseren technische­n Möglichkei­ten, dem Einsatz von künstliche­r Intelligen­z das Coronaviru­s besiegen?

PRECHT Ich wüsste nicht wie. Tracing-Apps können vielleicht ganz zu Anfang oder am Ende einer Epidemie helfen, aber auch das ist nicht sicher. Wir können uns in keinem Fall darauf verlassen, dass künstliche Intelligen­z uns grundsätzl­ich vor Krankheit und Tod bewahrt. Ich veröffentl­iche nächsten Monat ein Buch, das sich mit künstliche­r Intelligen­z beschäftig­t. Darin beschreibe ich, dass Menschen keine Maschinen sind mit defizitäre­n Speichern und ungenügend­er Rechenleis­tung, sondern zutiefst biologisch­e und soziale Wesen. Die Heuschreck­en sind uns näher verwandt als das Smartphone. Die Vorstellun­g, dass Menschen so etwas wie Vorformen superintel­ligenter Maschinen sind, die sich von uns erfunden, immer weiter entwickeln und den Menschen ersetzen, ist alberne Science Fiction aus dem Silicon Valley. Gerade die Corona-Krise lässt uns spüren, dass wir in die Natur eingebunde­n sind. Und wenn wir uns dessen bewusst sind, finden wir auch Lösungen – in der Corona-Krise und in der noch viel größeren Herausford­erung durch den Klimawande­l.

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FOTO: THOMAS COST/LAIF

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