Der große Stresstest für die Wirtschaft
Das Coronavirus schlug ein wie ein Meteorit. Doch viele Unternehmen passen sich sehr geschickt der Krise an.
DÜSSELDORF Der Himmel war einmal grenzenlos für die Lufthansa. Die Corona-Pandemie hat Deutschlands Parade-Flieger fast komplett auf den Boden verbannt. Nur noch ein Prozent der Flugzeuge ist in der Luft. Der erfolgsverwöhnte Konzern schwankt nun zwischen Insolvenz, Staatsbeteiligung und öffentlichen Hilfen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Und selbst wenn die Rettung kommt, werden die Inlandsverbindungen kaum mehr als 70 Prozent ihres Vor-Corona-Niveaus erreichen.
Es ist die neue Normalität in der Wirtschaft. Deutschland ist plötzlich das Reiseland Nummer eins der Bundesbürger, für die es vor Corona nicht weit genug weg gehen konnte. Tourismus, Hotels, Restaurants, der Kultur-, Sport- und Unterhaltungsbereich liegen am Boden. Um mehr als zehn Prozent brachen die Exporte im März ein, der schlimmste Verlust in der Nachkriegszeit. Die Kapazitätsauslastung der Autoindustrie liegt nach einem internen Papier des Industrieverbands BDI gerade einmal bei 45 Prozent, ein Allzeittief.
Andere Konzerne dagegen blühen in der Krise auf. Die Online-Plattform Amazon steigerte im ersten Quartal den Umsatz um 26 Prozent auf sagenhafte 75 Milliarden Dollar (69 Milliarden Euro). 175.000 Menschen hat der Internetriese seit Beginn der Pandemie weltweit eingestellt, selbst vor Ort in niederrheinischen Kempen soll das neue Verteilzentrum die Belegschaft schnell von 150 auf 300 Beschäftigte verdoppeln. Videokonferenzen, Homeoffice und überlastete Internet-Verbindungen prägen die Wirtschaftsbeziehungen im Frühjahr 2020, während Autobahn-Staus und überfüllte ICE-Züge offenbar der Vergangenheit angehören.
Auch das ist die neue Normalität in Zeiten von Corona. „Die Corona-Krise ist ein großer Treiber von Ungleichheit“, hat der Digitalisierungsexperte des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, Ulrich Zierahn, erkannt. Und KarlHeinz Streibich, der frühere Chef des SAP-Konkurrenten Software AG und heutige Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech), fügt hinzu: „In der Covid-Krise kommen digitale und digitalisierte Unternehmen besser zurecht. Mehr noch, sie werden auch erheblich besser wieder herauskommen, weil sie flexibler sind. Sie nutzen Möglichkeiten digitaler Zusammenarbeit von verschiedenen Orten aus seit langem, während sich andere nun ruckartig digitalisieren müssen.“
Digitalisierung, Fernsteuerung und Automatisierung sind für die so starke deutsche Industrie zur Schicksalsfrage geworden. Hinzu kommt der Primat einer dezentralen Betriebsführung – egal ob in der Fabrik oder im Büro. Abstand halten, Infektionsrisiken minimieren und auf elektronischen Plattformen Alternativen für bisherige Kunden und Lieferanten zu finden, ist derzeit Top-Priorität in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft. Schließlich würden die Unternehmen, so der Arbeitsmarktexperte Zierahn, unter einem „doppelten Schock“leiden. Zuerst wären die Kunden und Lieferanten weggebrochen, dann müssten die Firmen fürchten, dass ihre Belegschaften
Opfer der Krise werden.
Das Münchner Startup Kinexon hat sich in der Corona-Krise darauf spezialisiert, Unternehmen ein Frühwarnsystem anzubieten, das solche Risiken minimiert. Es hat eine Software entwickelt, die als Armband anzeigt, wenn eine Person die Abstandsregel nicht einhält oder zu lange mit einer anderen im Kontakt bleibt. Inzwischen zählt der 200-Mann-Betrieb Konzerne wie BMW, Continental oder Zalando zu seinen Kunden. „Unser entscheidender Vorteil ist die präzise Abstandswarnung in Echtzeit und der von Anfang an praktizierte Datenschutz“, erläutert Firmenchef Oliver Trinchera seine Geschäftsidee. Kinexon hat diese Technik den Clubs der amerikanischen Basketball-Liga NBA verkauft, damit die Spieler vor möglichen Verletzungen gewarnt werden.
Die Technik hilft sogar, Ansteckungen zu minimieren. Trinchera: „Wir liefern den Unternehmen über die optionale Kontaktkettenrückverfolgung ein Instrument, in dem sie die Risiken bei Ansteckung genau ermitteln können. Sie müssen dann den Betrieb nicht völlig runterfahren.“Ein großer Autozulieferer will die Software breit einsetzen.
Die neue Vorsicht hat längst in die meisten Fertigungs- und Dienstleistungsprozesse Einzug gehalten. So sind Zwei-Schicht-Systeme und die Rotation von Teams in vielen Unternehmen die Regel. Für sensible Bereiche gibt es Schutzkleidung, Arbeitsplätze werden einem Gefährdungs-Screening unterzogen, Kundenkontakte minimiert oder die Regelarbeitszeit auf Abende oder den Samstag erweitert. „Pandemie-sichere Fertigung“heißt das Zauberwort bei Unternehmen wie Continental oder VW.
Acatech-Chef Streibich bringt es auf den Punkt: „Es geht um umfassende Resilienz, die für uns das Sicherheitsparadigma des 21. Jahrhunderts ist.“Damit sei die Wirtschaft auch für andere Risiken gerüstet – klimabedingte Dürren, neue Krankheiten oder Hackerangriffe auf kritische Infrastrukturen. Streibich: „Resilienz heißt, sich auf das Unvorhersehbare möglichst gut vorzubereiten, indem man sich gut schützt und gleichzeitig flexibler, anpassungsfähiger wird in Krisensituationen.“Es ist eben die neue Normalität der Corona-Welt, auf die sich die Wirtschaftsakteure, seien es Produzenten, Dienstleister, Kunden oder Lieferanten, auf Dauer einstellen müssen. Oder wie es der Kinexon-Gründer Trinchera ausgedrückt: „Mit Abstandsregeln und Kontakteinschränkungen werden wir noch lange leben müssen.“