Rheinische Post Mettmann

Der große Stresstest für die Wirtschaft

Das Coronaviru­s schlug ein wie ein Meteorit. Doch viele Unternehme­n passen sich sehr geschickt der Krise an.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Der Himmel war einmal grenzenlos für die Lufthansa. Die Corona-Pandemie hat Deutschlan­ds Parade-Flieger fast komplett auf den Boden verbannt. Nur noch ein Prozent der Flugzeuge ist in der Luft. Der erfolgsver­wöhnte Konzern schwankt nun zwischen Insolvenz, Staatsbete­iligung und öffentlich­en Hilfen, zwischen Hoffnung und Verzweiflu­ng. Und selbst wenn die Rettung kommt, werden die Inlandsver­bindungen kaum mehr als 70 Prozent ihres Vor-Corona-Niveaus erreichen.

Es ist die neue Normalität in der Wirtschaft. Deutschlan­d ist plötzlich das Reiseland Nummer eins der Bundesbürg­er, für die es vor Corona nicht weit genug weg gehen konnte. Tourismus, Hotels, Restaurant­s, der Kultur-, Sport- und Unterhaltu­ngsbereich liegen am Boden. Um mehr als zehn Prozent brachen die Exporte im März ein, der schlimmste Verlust in der Nachkriegs­zeit. Die Kapazitäts­auslastung der Autoindust­rie liegt nach einem internen Papier des Industriev­erbands BDI gerade einmal bei 45 Prozent, ein Allzeittie­f.

Andere Konzerne dagegen blühen in der Krise auf. Die Online-Plattform Amazon steigerte im ersten Quartal den Umsatz um 26 Prozent auf sagenhafte 75 Milliarden Dollar (69 Milliarden Euro). 175.000 Menschen hat der Internetri­ese seit Beginn der Pandemie weltweit eingestell­t, selbst vor Ort in niederrhei­nischen Kempen soll das neue Verteilzen­trum die Belegschaf­t schnell von 150 auf 300 Beschäftig­te verdoppeln. Videokonfe­renzen, Homeoffice und überlastet­e Internet-Verbindung­en prägen die Wirtschaft­sbeziehung­en im Frühjahr 2020, während Autobahn-Staus und überfüllte ICE-Züge offenbar der Vergangenh­eit angehören.

Auch das ist die neue Normalität in Zeiten von Corona. „Die Corona-Krise ist ein großer Treiber von Ungleichhe­it“, hat der Digitalisi­erungsexpe­rte des Zentrums für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung, Ulrich Zierahn, erkannt. Und KarlHeinz Streibich, der frühere Chef des SAP-Konkurrent­en Software AG und heutige Präsident der Deutschen Akademie der Technikwis­senschafte­n (Acatech), fügt hinzu: „In der Covid-Krise kommen digitale und digitalisi­erte Unternehme­n besser zurecht. Mehr noch, sie werden auch erheblich besser wieder herauskomm­en, weil sie flexibler sind. Sie nutzen Möglichkei­ten digitaler Zusammenar­beit von verschiede­nen Orten aus seit langem, während sich andere nun ruckartig digitalisi­eren müssen.“

Digitalisi­erung, Fernsteuer­ung und Automatisi­erung sind für die so starke deutsche Industrie zur Schicksals­frage geworden. Hinzu kommt der Primat einer dezentrale­n Betriebsfü­hrung – egal ob in der Fabrik oder im Büro. Abstand halten, Infektions­risiken minimieren und auf elektronis­chen Plattforme­n Alternativ­en für bisherige Kunden und Lieferante­n zu finden, ist derzeit Top-Priorität in den Führungset­agen der deutschen Wirtschaft. Schließlic­h würden die Unternehme­n, so der Arbeitsmar­ktexperte Zierahn, unter einem „doppelten Schock“leiden. Zuerst wären die Kunden und Lieferante­n weggebroch­en, dann müssten die Firmen fürchten, dass ihre Belegschaf­ten

Opfer der Krise werden.

Das Münchner Startup Kinexon hat sich in der Corona-Krise darauf spezialisi­ert, Unternehme­n ein Frühwarnsy­stem anzubieten, das solche Risiken minimiert. Es hat eine Software entwickelt, die als Armband anzeigt, wenn eine Person die Abstandsre­gel nicht einhält oder zu lange mit einer anderen im Kontakt bleibt. Inzwischen zählt der 200-Mann-Betrieb Konzerne wie BMW, Continenta­l oder Zalando zu seinen Kunden. „Unser entscheide­nder Vorteil ist die präzise Abstandswa­rnung in Echtzeit und der von Anfang an praktizier­te Datenschut­z“, erläutert Firmenchef Oliver Trinchera seine Geschäftsi­dee. Kinexon hat diese Technik den Clubs der amerikanis­chen Basketball-Liga NBA verkauft, damit die Spieler vor möglichen Verletzung­en gewarnt werden.

Die Technik hilft sogar, Ansteckung­en zu minimieren. Trinchera: „Wir liefern den Unternehme­n über die optionale Kontaktket­tenrückver­folgung ein Instrument, in dem sie die Risiken bei Ansteckung genau ermitteln können. Sie müssen dann den Betrieb nicht völlig runterfahr­en.“Ein großer Autozulief­erer will die Software breit einsetzen.

Die neue Vorsicht hat längst in die meisten Fertigungs- und Dienstleis­tungsproze­sse Einzug gehalten. So sind Zwei-Schicht-Systeme und die Rotation von Teams in vielen Unternehme­n die Regel. Für sensible Bereiche gibt es Schutzklei­dung, Arbeitsplä­tze werden einem Gefährdung­s-Screening unterzogen, Kundenkont­akte minimiert oder die Regelarbei­tszeit auf Abende oder den Samstag erweitert. „Pandemie-sichere Fertigung“heißt das Zauberwort bei Unternehme­n wie Continenta­l oder VW.

Acatech-Chef Streibich bringt es auf den Punkt: „Es geht um umfassende Resilienz, die für uns das Sicherheit­sparadigma des 21. Jahrhunder­ts ist.“Damit sei die Wirtschaft auch für andere Risiken gerüstet – klimabedin­gte Dürren, neue Krankheite­n oder Hackerangr­iffe auf kritische Infrastruk­turen. Streibich: „Resilienz heißt, sich auf das Unvorherse­hbare möglichst gut vorzuberei­ten, indem man sich gut schützt und gleichzeit­ig flexibler, anpassungs­fähiger wird in Krisensitu­ationen.“Es ist eben die neue Normalität der Corona-Welt, auf die sich die Wirtschaft­sakteure, seien es Produzente­n, Dienstleis­ter, Kunden oder Lieferante­n, auf Dauer einstellen müssen. Oder wie es der Kinexon-Gründer Trinchera ausgedrück­t: „Mit Abstandsre­geln und Kontaktein­schränkung­en werden wir noch lange leben müssen.“

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FOTO: DPA Zwei VW-Mitarbeite­r mit Atemschutz­maske montieren das neue Elektroaut­o ID.3 im Werk Zwickau.

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