Der Sport geht auf Abstand
Geisterspiele im Profifußball und weitgehende Kontaktlosigkeit im Breitensport werden die neue Normalität. Das Publikum muss ebenfalls auf Abstand gehen. Das Erlebnis wird privater.
DÜSSELDORF Manchmal verbirgt sich die ganze Wahrheit in einem Satz, selbst wenn diese Wahrheit ganz schön schräg ist. Diesmal hat ihn Alfons Hörmann gesagt. Als die Politik diese Woche erste Einschränkungen für den Breitensport aufhob, feierte der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes „die Rückkehr zur neuen Normalität“. Das ist ein wunderbar absurdes Bild. Rückkehr heißt ja eigentlich: zurück zum vorherigen Zustand, zur Normalität an sich, zum Selbstverständlichen. Hörmann aber nennt sie „neue“Normalität. Dahin kann niemand zurückkehren, sie liegt in der Zukunft. Das weiß er natürlich. Und er weiß auch, dass diese Zukunft schon begonnen hat.
Ein anderer großer Sportfunktionär hat das auf seine Art ausgedrückt. Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke erklärte nach dem Beschluss, die Bundesliga ohne Publikum wieder in den Spielbetrieb zu schicken: „Nur weil die Bevölkerung ungemein diszipliniert war, können wir jetzt sukzessive und in kleinen Schritten zu einer anderen Form der Normalität übergehen.“
Der DOSB hat dem Breitensport Regeln für diese andere Form der Normalität gegeben, die Deutsche Fußball Liga hat den Betrieb der Bundesligen in ein klinisches Hygienekonzept gepackt. Im Breitensport gilt Abstand halten, der Profifußball bildet ein geschlossenes System. Das gilt solange, wie das Coronavirus der Gesellschaft den Takt vorgibt, also bis ein Impfstoff gefunden ist.
Vorerst bestimmt deshalb diese neue Normalität das Leben im
Sport und das Leben mit dem Sport. Im Breitensport wird weitgehende Kontaktlosigkeit die neue Normalität. Der Trend zu den individuellen Sportarten wird sich erhärten. Wie schon zu Beginn der Krise werden Radfahrer und Läufer das Bild bestimmen, viele werden beim Sport im „Homeoffice“bleiben, auf ihren Ergometern, an den Hanteln, auf der Gymnastikmatte. Der Profifußball, vielleicht später andere Berufssportarten, werden sich an die Geschlossenheit des Systems gewöhnen, sie betreiben ihre bezahlten Leibesübungen auch aus wirtschaftlichen Gründen in einer eigenen Fabrik.
Geisterspiele, ein Begriff, der die furchtbare Abwesenheit von Lebendigkeit sehr anschaulich beschreibt, werden zum Alltag im professionellen Sport. Eine Normalität, die eigentlich niemand will. Der Berliner Sportphilosoph Gunter Gebauer urteilt: „Dieser Fußball unter Laborbedingungen
bringt doch keine Normalität zurück. Im Gegenteil: Dieser Fußball wird uns zeigen, dass wir nicht in normalen Zeiten leben.“
Dem Publikum, das in einer anderen, in der wahren Normalität notwendig zum Profisport gehört und ihm den Glanz gibt, geht es wie den Breitensportlern. Es muss auf Abstand gehen. Im Stadion ist es nicht vorgesehen, Versammlungen vor den Stadien verbietet die Ansteckungsgefahr. Gemeinsames Verfolgen der Live-Übertragungen in Kneipen werden seltsame, vermutlich vergleichsweise stille Veranstaltungen,
weil niemand dem anderen nahekommen darf. Der Sport, letztlich auch dessen Konsum, wird privat.
Notwendiger Abstand zum Objekt Profisport und hier besonders zum alles überstrahlenden Berufsfußball kann in zumindest einer Hinsicht sogar etwas Positives haben. Weniger Emotionen bedeuten nämlich gleichzeitig ein höheres Maß an Abgeklärtheit. Die Betrachtung wird auf jeden Fall nüchterner, der Trend zur Überhöhung und Hochjubelei wird zwangsläufig abnehmen. Das wäre dann eine Form der Normalität, die dem ganzen Geschäft gut tun kann. Denn es besteht die Möglichkeit, dass es auf der Seite der Geschäftsinhaber, die die große Maschine Profisport betreiben, zu einer Form der Selbstbesinnung kommt, wenn die Leidenschaft des Publikums abkühlt. „Wir sind nun Vorbilder“, sagte der Nationalmannschafts-Kapitän
Manuel Neuer. Und so mancher bemüht in diesen Tagen hehre Werte wie Demut und Bescheidenheit. Der ehemalige Bundesligatrainer Winfried Schäfer erklärte im Gespräch mit unserer Redaktion: „Vielleicht kommt das Geschäft so wieder etwas auf den Boden.“Das ist sicher eine verwegene Hoffnung. Sie weist aber einen anderen Rückweg in eine halbwegs erträgliche Normalität jenseits unanständiger Gehälter und fragwürdiger Ablösesummen. Für den Moment ist diese Hoffnung erlaubt.
Es kann allerdings auch sein, dass der frühere Schalker und Mainzer Manager Christian Heidel Recht behält. Er glaubt: „Sobald sich alles erholt hat, wird es wieder normal laufen.“Und er meint das sinnfreie Verprassen von Geld. Es stellt sich nur eine Frage: Wer außerhalb der Profifußball-Blase will diese Normalität zurück?