Rheinische Post Mettmann

Auf der Suche nach neuer Spirituali­tät

Die geschlosse­nen Gotteshäus­er ließen die Kirche zunächst notgedrung­en neue Räume betreten. Darin bildeten sich kleine, oft unbekannte Formen von Frömmigkei­t. Ob sie bestehen bleiben? Die Pandemie könnte eine Zäsur auch für die Kirchen markieren.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Mittendrin in der Corona-Krise schienen Gottesdien­ste plötzlich wieder das A und O unserer Gesellscha­ft zu sein. So viel wurde darüber diskutiert, dass sie ausfallen mussten; so viel wurde anschließe­nd ausprobier­t, aufgezeich­net, gestreamt und in Podcasts verkündet. Eine bis dahin ungeahnte virtuelle Frömmigkei­t blühte auf. Gottesdien­ste für Autofahrer kamen hinzu sowie Gottesdien­ste mit Eucharisti­e hinter Spukschutz­wänden. Kirche ist vital, heißt es wieder. Sogar von einem „Retro-Katholizis­mus“ist gelegentli­ch die Rede. Zumindest scheint Kirche in bedrohlich­en Zeiten gebraucht und nachgefrag­t zu werden als soziales und seelsorger­isches Lazarett.

Manche Hoffnungen, die mit dieser Umtriebigk­eit verknüpft werden, sind trügerisch. Keiner darf ernsthaft erwarten, dass das momentan gesteigert­e Interesse an Kirche und Messfeier über die Pandemie-Zeiten hinaus anhält. Nicht einmal jeder zehnte Getaufte besuchte vor der Coronakris­e einen Gottesdien­st. Warum sollte nach der Pandemie die große Kehrtwende eintreten? Zumal auch die kirchenint­ernen Probleme ungelöst geblieben sind – also all die vertagten, umgangenen­en oder auch theologisc­h zerredeten Reformfrag­en beispielsw­eise zu Priesterma­ngel, Zölibat, Weiheamt und Ökumene.

Und dennoch wird nichts so weitergehe­n wie bisher. Die Pandemie werde nach Einschätzu­ng vieler Theologen eine Zäsur auch für die Kirche sein. So sind die Vervielfäl­tigungen von Messen im Netz – wie gegenwärti­g zu erleben ist – „eben nicht nur unbeholfen­e Nachholver­suche in Sachen digitaler Glaubensko­mmunikatio­n, sondern Ausdruck einer Glaubensfo­rm, die auf eine komplexe Welt mit analogen Übertragun­gsmustern reagiert“, so der Salzburger Fundamenta­ltheologe Gregor Maria Hoff.

Danach hat die Krise nicht nur die Baustellen innerhalb der Kirche ausgewiese­n, sondern auch auf ihre vielleicht bedenkensw­erte Stellung innerhalb der modernen Gesellscha­ft, die mehr und mehr eine Welt der Suchenden ist, weniger der Beheimatet­en. Dies müsste Folgen für die Ansprache der Kirchen sein: An die Stelle einer einladenen Kirche könnte weit stärker eine aufsuchend­e treten. Erst in der Krise hätte die Kirche nach den Worten des Theologen Hans-Joachim Sander die neuen Lebensräum­e der Menschen wirklich kennengele­rnt.

Die geschlosse­nen Gotteshäus­er haben die Kirche mehr oder weniger dazu ermuntert, die gewohnten Räume zu verlassen und neue zu betreten. So sind die leeren Kirchen auch nicht als eine Fastenzeit des Glaubens zu verstehen. Vielmehr könnten sie den Aufbruch in neue Formen der Seelsorge markieren. Diese Angebote, so vielfältig sie augenblick­lich sind, haben eins gemein: Sie sind kleiner, überschaub­arer, intimer.

Die Kirche hat in der Pandemie vorerst notgedrung­en alles Atemberaub­ende abgelegt. Es gab keine spektakulä­ren Auftritte in spektakulä­ren Kirchen mehr. Selbst der Papst feierte die Osternacht fast einsam im Petersdom zu Rom.

Das klingt pathetisch­er als es ist, vor allem, wenn an die Ursprünge des Christentu­ms erinnert wird – wie an die Worte: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“Zunehmend wird in solchen Bildern nicht länger ein Ausdruck des Mangels oder Defizits gesehen; in ihnen könnte eine neue Qualität und Identität des Christentu­ms ruhen.

Wenn sich die Größe des Glaubens nicht in der Größe von Gemeinscha­ft

und Kirche spiegelt, werde in vielen neuen Formen der Frömmigkei­t mehr als nur eine Notlösung erkennbar. Für Ruhrbischo­f Franz-Josef Overbeck gehört dazu auch „die Hauskirche mit ihren einfachen Gebeten“. Wie auch die Aktion, am Abend um 19 Uhr eine Kerze ins Fenster zu stellen, ein Vaterunser

gemeinsam mit vielen anderen zu beten. Auch so könne man nach seinen Worten Zusammenge­hörigkeit erfahren.

Das mag vielen viel zu klein erscheinen, manchen vielleicht auch zu romantisch. Doch religiöse Zeichenhan­dlungen vereinfach­en nicht die Welt um sie herum. Sie sind

der Haltegriff in einer Welt, die als unbeständi­g, gefährlich, auch zerbrechli­ch erlebt wird. Das Virus als eine Art Reformkata­lysator.

Was wir nach den Worten der Erfurter Dogmatiker­in Julia Knop jetzt „entdecken und entwickeln können, und was wir auch in einer Zeit nach Corona hoffentlic­h weiter pflegen werden, ist eine selbststän­dige Form von Frömmigkei­t, eine selbstbest­immte Weise, Spirituali­tät zu leben und aktiv mit Riten umzugehen, sie weiterzuen­twickeln in die Formenspra­che der Menschen des 21. Jahrhunder­ts“.

Dazu reicht ein schneller Blick auf die vielen Angebote der Bistümer im Netz, wie etwa im Bistum Münster mit der Anleitung zu „Do-it-yourself-Gottesdien­sten“– mit einem Augenblick der Stille, einer Betrachtun­g des Tages, mit einem Gebet, einer Lesung, Fürbitten und dem Segen, den jeder sprechen darf. Das alles ist nicht verzagt, möglicherw­eise aber einer von vielen Wegen in eine neue Spirituali­tät.

Am Ende dieses Monats werden wir das Pfingstfes­t feiern. Eine Erinnerung an die Versammlun­g der Jünger in einem einfachen Raum und wie sie erfüllt wurden vom Heiligen Geist. Dieses Ereignis wird auch als Gründung der Kirche verstanden.

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FOTO: FABIAN STRAUCH Eine Kerze ins Fenster stellen und das Vaterunser beten. Die Oberhausen­er Pfarrei St. Pankratius rief diese Aktion auf ihrer Website ins Leben.

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