Auf der Suche nach neuer Spiritualität
Die geschlossenen Gotteshäuser ließen die Kirche zunächst notgedrungen neue Räume betreten. Darin bildeten sich kleine, oft unbekannte Formen von Frömmigkeit. Ob sie bestehen bleiben? Die Pandemie könnte eine Zäsur auch für die Kirchen markieren.
Mittendrin in der Corona-Krise schienen Gottesdienste plötzlich wieder das A und O unserer Gesellschaft zu sein. So viel wurde darüber diskutiert, dass sie ausfallen mussten; so viel wurde anschließend ausprobiert, aufgezeichnet, gestreamt und in Podcasts verkündet. Eine bis dahin ungeahnte virtuelle Frömmigkeit blühte auf. Gottesdienste für Autofahrer kamen hinzu sowie Gottesdienste mit Eucharistie hinter Spukschutzwänden. Kirche ist vital, heißt es wieder. Sogar von einem „Retro-Katholizismus“ist gelegentlich die Rede. Zumindest scheint Kirche in bedrohlichen Zeiten gebraucht und nachgefragt zu werden als soziales und seelsorgerisches Lazarett.
Manche Hoffnungen, die mit dieser Umtriebigkeit verknüpft werden, sind trügerisch. Keiner darf ernsthaft erwarten, dass das momentan gesteigerte Interesse an Kirche und Messfeier über die Pandemie-Zeiten hinaus anhält. Nicht einmal jeder zehnte Getaufte besuchte vor der Coronakrise einen Gottesdienst. Warum sollte nach der Pandemie die große Kehrtwende eintreten? Zumal auch die kircheninternen Probleme ungelöst geblieben sind – also all die vertagten, umgangenenen oder auch theologisch zerredeten Reformfragen beispielsweise zu Priestermangel, Zölibat, Weiheamt und Ökumene.
Und dennoch wird nichts so weitergehen wie bisher. Die Pandemie werde nach Einschätzung vieler Theologen eine Zäsur auch für die Kirche sein. So sind die Vervielfältigungen von Messen im Netz – wie gegenwärtig zu erleben ist – „eben nicht nur unbeholfene Nachholversuche in Sachen digitaler Glaubenskommunikation, sondern Ausdruck einer Glaubensform, die auf eine komplexe Welt mit analogen Übertragungsmustern reagiert“, so der Salzburger Fundamentaltheologe Gregor Maria Hoff.
Danach hat die Krise nicht nur die Baustellen innerhalb der Kirche ausgewiesen, sondern auch auf ihre vielleicht bedenkenswerte Stellung innerhalb der modernen Gesellschaft, die mehr und mehr eine Welt der Suchenden ist, weniger der Beheimateten. Dies müsste Folgen für die Ansprache der Kirchen sein: An die Stelle einer einladenen Kirche könnte weit stärker eine aufsuchende treten. Erst in der Krise hätte die Kirche nach den Worten des Theologen Hans-Joachim Sander die neuen Lebensräume der Menschen wirklich kennengelernt.
Die geschlossenen Gotteshäuser haben die Kirche mehr oder weniger dazu ermuntert, die gewohnten Räume zu verlassen und neue zu betreten. So sind die leeren Kirchen auch nicht als eine Fastenzeit des Glaubens zu verstehen. Vielmehr könnten sie den Aufbruch in neue Formen der Seelsorge markieren. Diese Angebote, so vielfältig sie augenblicklich sind, haben eins gemein: Sie sind kleiner, überschaubarer, intimer.
Die Kirche hat in der Pandemie vorerst notgedrungen alles Atemberaubende abgelegt. Es gab keine spektakulären Auftritte in spektakulären Kirchen mehr. Selbst der Papst feierte die Osternacht fast einsam im Petersdom zu Rom.
Das klingt pathetischer als es ist, vor allem, wenn an die Ursprünge des Christentums erinnert wird – wie an die Worte: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“Zunehmend wird in solchen Bildern nicht länger ein Ausdruck des Mangels oder Defizits gesehen; in ihnen könnte eine neue Qualität und Identität des Christentums ruhen.
Wenn sich die Größe des Glaubens nicht in der Größe von Gemeinschaft
und Kirche spiegelt, werde in vielen neuen Formen der Frömmigkeit mehr als nur eine Notlösung erkennbar. Für Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck gehört dazu auch „die Hauskirche mit ihren einfachen Gebeten“. Wie auch die Aktion, am Abend um 19 Uhr eine Kerze ins Fenster zu stellen, ein Vaterunser
gemeinsam mit vielen anderen zu beten. Auch so könne man nach seinen Worten Zusammengehörigkeit erfahren.
Das mag vielen viel zu klein erscheinen, manchen vielleicht auch zu romantisch. Doch religiöse Zeichenhandlungen vereinfachen nicht die Welt um sie herum. Sie sind
der Haltegriff in einer Welt, die als unbeständig, gefährlich, auch zerbrechlich erlebt wird. Das Virus als eine Art Reformkatalysator.
Was wir nach den Worten der Erfurter Dogmatikerin Julia Knop jetzt „entdecken und entwickeln können, und was wir auch in einer Zeit nach Corona hoffentlich weiter pflegen werden, ist eine selbstständige Form von Frömmigkeit, eine selbstbestimmte Weise, Spiritualität zu leben und aktiv mit Riten umzugehen, sie weiterzuentwickeln in die Formensprache der Menschen des 21. Jahrhunderts“.
Dazu reicht ein schneller Blick auf die vielen Angebote der Bistümer im Netz, wie etwa im Bistum Münster mit der Anleitung zu „Do-it-yourself-Gottesdiensten“– mit einem Augenblick der Stille, einer Betrachtung des Tages, mit einem Gebet, einer Lesung, Fürbitten und dem Segen, den jeder sprechen darf. Das alles ist nicht verzagt, möglicherweise aber einer von vielen Wegen in eine neue Spiritualität.
Am Ende dieses Monats werden wir das Pfingstfest feiern. Eine Erinnerung an die Versammlung der Jünger in einem einfachen Raum und wie sie erfüllt wurden vom Heiligen Geist. Dieses Ereignis wird auch als Gründung der Kirche verstanden.