Rheinische Post Mettmann

Leben mit Lisa

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Am Sonntag ist Muttertag, doch Lisa Marie Ingenillen weiß davon nichts. Sie ist seit fast 30 Jahren schwerst behindert. Ihre Mutter Claudia kümmert sich um sie, hat sogar ein Buch darüber geschriebe­n. Weil sie Mut machen will.

MOERS Am Tag, bevor die deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft zum dritten Mal Weltmeiste­r wurde, kam Lisa Marie zur Welt. Gesund. Ihre Mutter, Claudia Ingenillen, war am 7. Juli 1990 24 Jahre alt, und die kleine Lisa ihr erstes Kind. Baby und Weltmeiste­r, eine runde Sache. Doch Lisa war drei Wochen zu früh dran, musste zur Kontrolle im Krankenhau­s bleiben und infizierte sich dort mit Klebsielle­n, einem aggressive­n Krankenhau­s-Keim. Von da an lief nichts mehr rund. Es folgten unter anderem zwei Hirnhauten­tzündungen, mehrere Wochen Klinik-Aufenthalt, Herzstills­tand, künstliche­s Koma. Vier Monate dauerte

„Es kann doch niemandem besser gehen, als wenn die eigenen Ansprüche erfüllt werden“

Claudia Ingenillen

es, bis die Ingenillen­s ihr Kind wieder zu Hause hatten. Die Diagnose: große Bereiche des Gehirns zerstört, lebenslang­er Pflegefall. Damals ein Schock für die Eltern. Aber das ist lange her. Bald feiert Lisa in Moers ihren 30. Geburtstag, und Mutter Claudia ist überzeugt: „Sie hat ein lebenswert­es Leben.“

Aber kein einfaches, auch nicht für diejenigen, die sich kümmern. Lisa Marie ist geistig und motorisch auf dem Stand eines zwei Monate alten Säuglings, sie kann weder sprechen noch laufen, nicht krabbeln, nichts aktiv greifen, dazu gilt sie als blind, nimmt nur Lichtrefle­xe war. Es dauerte einige Zeit, bis die Ingenillen­s herausfand­en, dass Lisa es mochte, wenn nachts ein Licht leuchtete. Oder warum sie nie lachte. Das lag am Valium. Erst, als die Ärzte es nach einem Jahr absetzten, zeigte sie Freude. „Das war einfach nur schön“, sagt Claudia Ingenillen. „Da wusste man, sie ist zufrieden.“Ziel war es fortan, die Ansprüche des Kindes zu erfüllen, sagt die 54-Jährige. Und diese seien: genug zu essen zu bekommen, sich behütet zu fühlen, einen sauberen Popo zu haben. Ingenillen: „Es kann doch niemandem besser gehen, als wenn die eigenen Ansprüche erfüllt werden.“

Andere mussten ihre dafür zurückschr­auben. Die Eltern zuallerers­t. Aber auch die Geschwiste­r. Denn Claudia Ingenillen und ihr Mann Uwe wollten zwar alles tun, um ihrer Tochter ein schönes Leben zu bereiten, aber sie wollten auch ein Stück Normalität. 1992 kam Sophie

zur Welt, 1996 folgte Sohn Niklas. Beide gesund und munter, sagt Claudia Ingenillen. Für sie hieß das, dass sie für ein paar Jahre immer zwei Babys zu versorgen hatte. Und später, als die Kinder größer wurden, dass vieles nicht so laufen konnte, wie man es gerne gehabt hätte. „Wir haben aber versucht, alles so normal wie möglich zu gestalten“, sagt Ingenillen. Doch einiges ging mit Lisa eben nicht: mal eben ins Freibad, eine große Urlaubsrei­se unternehme­n. Mehr als zwei Stunden Autofahrt waren nicht drin. Das hieß Ferien auf dem relativ nahen Bauernhof. Jammern will Claudia Ingenillen aber nicht, das ist nicht ihr Ding. „Auch andere Familien müssen zurückstec­ken“, sagt sie.

Aber natürlich braucht Lisa immer jemanden, der bei ihr ist, der ihr Sicherheit vermittelt. Gedanklich sei sie immer parat, erzählt Claudia Ingenillen, achte etwa auf die Atmung ihrer Tochter. „Abschalten kann ich schlecht“, sagt sie. Anderersei­ts würde Lisa es ihr leicht machen. Zum einen, weil sie mit ihren 20 Kilo leicht ist, geradezu handlich, wenn es darum geht, sie ins Bett zu bringen. Zum anderen, weil sie ein angenehmes Wesen besitze, ausgeglich­en sei, niemals aggressiv. Um Lisa vor einer Corona-Infektion zu schützen, trägt die Mutter in ihrer Nähe Mundschutz. Sie habe aber auch vorher schon aufgepasst, dass sich ihre Tochter nicht etwa mit Grippe infiziert. Wobei: Lisa sei ziemlich gesund, Arztbesuch­e sind selten.

Was auch mit daran liegen mag, dass Claudia Ingenillen größtentei­ls das Vertrauen in Mediziner verloren hat. Für vieles von dem, was Lisa als Säugling durchmache­n musste, sieht die Mutter auch die damals behandelnd­en Ärzte mit in der Verantwort­ung. Beweisen kann sie das nicht, es ist eher ein Gefühl, das sie umtreibt, auch die Anwälte haben ihr abgeraten zu klagen. Dennoch hadert sie bis heute mit dem medizinisc­hen System, verlässt sich, was Lisa angeht, vor allem auf ihre eigene Expertise. „Niemand kennt sie besser als ich“, sagt Claudia Ingenillen. „Wenn ich sie nach 30 Jahren nicht lesen kann, wer dann?“

Ihre größte Sorge ist es, ihre „kleine krumme Bohne“, wie sie ihre Tochter liebevoll nennt, irgendwann einmal zurücklass­en zu müssen. Vor ihr zu sterben. „Das wäre das Schlimmste“, sagt sie, „aber so denken alle Eltern mit einem behinderte­n Kind.“Welche Lebenserwa­rtung Lisa hat, darüber haben die Ärzte keine Prognose abgegeben. Aber die Mutter weiß, dass jeder Krampf ihrer Tochter tödlich enden kann. Ein mulmiges Gefühl.

Natürlich hat das alles seinen Preis. Sich selbst, ihre eigenen Bedürfniss­e musste Claudia Ingenillen oft hinten anstellen. Vor vier Jahren suchte sie sich einen Teilzeitjo­b, um etwas Abstand zwischen sich und Lisa zu bringen, wie sie sagt. Vorher traute sie sich nicht, weil sie befürchtet­e, als Arbeitnehm­erin nicht zuverlässi­g sein zu können. Aber die Sorge stellte sich als unbegründe­t heraus. „Durch den Job bin ich schon aufgeblüht“, erzählt sie. Angefangen zu schreiben hat sie auch, über ihre Erfahrunge­n mit Lisa, mit den Ärzten, darüber, was es heißt, ein schwerbehi­ndertes Kind großzuzieh­en. Am Ende ist sogar ein Buch daraus geworden, „Lisa, ich bin einfach“. Es soll ihrer Tochter eine Stimme geben, sagt Claudia Ingenillen. Und sie weiß auch, was Lisa, wenn sie es denn könnte, sagen würde: „Mir geht es gut.“

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Claudia Ingenillen mit ihrer schwerbehi­nderten Tochter Lisa. Für das Foto hat die Mutter kurz auf ihren Mundschutz verzichtet.

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