Menschen brauchen Platz
Das Virus verändert unsere Städte. Sie könnten dadurch lebenswerter werden.
Städte sind Hochburgen des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Orte der Verdichtung, der Begegnung, des Angebots und der Inspiration. Diese Vitalität und Kreativität erlebt derzeit einen Frontalangriff durch Corona. Das Virus wird das städtische Leben verändern, es zerstören kann es nicht. Denn es waren und sind die Städte, in denen sich der Wandel der Zeit am schnellsten vollzieht. Nirgendwo sonst treffen Trends und Gegentrends so hart aufeinander, aus denen etwas Neues entstehen kann. In Städten wird Zukunft gedacht und gemacht.
Wir kennen sie aus Frankreich, Italien, Spanien, und wir lieben die Stimmung dort, weil wir sie zu Hause häufig vermissen: bevölkerte öffentliche Plätze, Parks und Grünanlagen. In deutschen Städten existiert eine solche Infrastruktur durchaus, doch geht es da meist weniger lebendig zu. Vielleicht sorgt die lange Zeit des Eingesperrtseins ja dafür, dass die Städter hierzulande ihr Wohnzimmer wie in südlicheren Gefilden künftig stärker auf den öffentlichen Raum erweitern. Die Sehnsucht danach ist jetzt schon erkennbar. Und wenn die Stadtplaner schlau sind, werden sie für etwas mehr mediterranes Flair inmitten von nüchternen Zweckbauten sorgen.
Mag sein, dass mancher den begrenzten und häufig auch teuren Wohnraum in der Stadt jetzt satt hat, weil ihm die Decke auf den Kopf gefallen ist und die Kinder, die nicht zu Schule gehen durften, die Nerven strapazierten. Im Gegensatz zu allen anderen haben Großstädter in den vergangenen Jahren sogar Einbußen bei den zur Verfügung stehenden Quadratmetern hinnehmen müssen. Vielleicht reift jetzt bei einigen der Entschluss, aufs Land oder wenigstens in die urbane Peripherie zu ziehen, nicht zuletzt, weil das Homeoffice gut funktioniert hat und das Pendeln ins Büro möglicherweise sogar überflüssig macht.
Sicher ist: Der Platz in den oft engen Städten wird noch kostbarer werden, denn in der Krise zeigt sich: Wir alle brauchen mehr davon. Die strengen Abstandsregeln werden zwar irgendwann wieder gelockert werden. Doch die Vorsicht wird bleiben. Viren sind wandlungsfähig. Geduld muss als Tugend gerade in der Stadt neu entdeckt werden und jeder für sich einen Weg finden, sein Leben um Stoßzeiten und Massenandrang herum zu organisieren.
Doch auch hier liegt zugleich eine große Chance, denn Schlange stehen war auch vor der Krise nicht sonderlich sexy. Nicht nur die Weiterentwicklung von Einkaufs-Apps könnte das Problem entschärfen. Auch das gute alte Einkaufen für mehrere Personen könnte eine Renaissance erleben. In den oft als anonym empfundenen Städten bekommt Nachbarschaft vielleicht einen neuen Stellenwert.
Ohne Zweifel bleibt die Stadt als Lebensraum auch in Zukunft für viele Menschen attraktiv. Das bedeutet, dass sie weiterhin ein Ort hochverdichteter Gemeinschaft sein wird, an dem das Risiko für Infektionen besonders hoch ist. Eine App könnte auch hier dabei helfen, die Verbreitung von Viren wie Corona zu verhindern. Man spricht dabei von Tracking- oder Tracing-Apps. Sie zeichnen individuelle Bewegungsprofile auf dem Smartphone auf. Wenn jemand sich infiziert hat, ist es entscheidend zu wissen, mit wem diese Person in den vergangenen Tagen und Wochen engeren Kontakt gehabt hat. Nicht nur im privaten Bereich, sondern eben auch im öffentlichen Raum.
„Engerer Kontakt“heißt: Menschen, die weniger als als zwei Meter Abstand zu der erkrankten Person hatten.Die Politik setzt bei ihren Überlegungen, eine solche App einzusetzen, auf Freiwilligkeit, da viele Frage des Datenschutzes weiterhin offen sind. Laut Umfragen aber wären immerhin etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung bereit, sich eine Tracking-App freiwillig zu installieren.
Die langen Schlangen vor den Geschäften – man sieht sie jetzt auch vor den vielen Fahrradläden in der Stadt. Die Händler berichten von einem Frühjahrsboom, der den der Vorjahre übertrifft. Das könnte auch daran liegen, dass die Neigung nachgelassen hat, sich mit anderen Menschen in öffentliche Transportmittel zu quetschen. Der Stadt täte das gut, denn jeder zusätzliche Radweg wäre zugleich eine neue Umweltspur. Weniger Krach, weniger Dreck, weniger Stau könnten das Ergebnis sein, von dem alle profitieren. Auch dann noch, wenn die Krise längst vorbei ist.
In den oft als anonym empfundenen Städten bekommt Nachbarschaft vielleicht einen
neuen Stellenwert