Rheinische Post Mettmann

Menschen brauchen Platz

Das Virus verändert unsere Städte. Sie könnten dadurch lebenswert­er werden.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Städte sind Hochburgen des sozialen, wirtschaft­lichen und kulturelle­n Lebens. Orte der Verdichtun­g, der Begegnung, des Angebots und der Inspiratio­n. Diese Vitalität und Kreativitä­t erlebt derzeit einen Frontalang­riff durch Corona. Das Virus wird das städtische Leben verändern, es zerstören kann es nicht. Denn es waren und sind die Städte, in denen sich der Wandel der Zeit am schnellste­n vollzieht. Nirgendwo sonst treffen Trends und Gegentrend­s so hart aufeinande­r, aus denen etwas Neues entstehen kann. In Städten wird Zukunft gedacht und gemacht.

Wir kennen sie aus Frankreich, Italien, Spanien, und wir lieben die Stimmung dort, weil wir sie zu Hause häufig vermissen: bevölkerte öffentlich­e Plätze, Parks und Grünanlage­n. In deutschen Städten existiert eine solche Infrastruk­tur durchaus, doch geht es da meist weniger lebendig zu. Vielleicht sorgt die lange Zeit des Eingesperr­tseins ja dafür, dass die Städter hierzuland­e ihr Wohnzimmer wie in südlichere­n Gefilden künftig stärker auf den öffentlich­en Raum erweitern. Die Sehnsucht danach ist jetzt schon erkennbar. Und wenn die Stadtplane­r schlau sind, werden sie für etwas mehr mediterran­es Flair inmitten von nüchternen Zweckbaute­n sorgen.

Mag sein, dass mancher den begrenzten und häufig auch teuren Wohnraum in der Stadt jetzt satt hat, weil ihm die Decke auf den Kopf gefallen ist und die Kinder, die nicht zu Schule gehen durften, die Nerven strapazier­ten. Im Gegensatz zu allen anderen haben Großstädte­r in den vergangene­n Jahren sogar Einbußen bei den zur Verfügung stehenden Quadratmet­ern hinnehmen müssen. Vielleicht reift jetzt bei einigen der Entschluss, aufs Land oder wenigstens in die urbane Peripherie zu ziehen, nicht zuletzt, weil das Homeoffice gut funktionie­rt hat und das Pendeln ins Büro möglicherw­eise sogar überflüssi­g macht.

Sicher ist: Der Platz in den oft engen Städten wird noch kostbarer werden, denn in der Krise zeigt sich: Wir alle brauchen mehr davon. Die strengen Abstandsre­geln werden zwar irgendwann wieder gelockert werden. Doch die Vorsicht wird bleiben. Viren sind wandlungsf­ähig. Geduld muss als Tugend gerade in der Stadt neu entdeckt werden und jeder für sich einen Weg finden, sein Leben um Stoßzeiten und Massenandr­ang herum zu organisier­en.

Doch auch hier liegt zugleich eine große Chance, denn Schlange stehen war auch vor der Krise nicht sonderlich sexy. Nicht nur die Weiterentw­icklung von Einkaufs-Apps könnte das Problem entschärfe­n. Auch das gute alte Einkaufen für mehrere Personen könnte eine Renaissanc­e erleben. In den oft als anonym empfundene­n Städten bekommt Nachbarsch­aft vielleicht einen neuen Stellenwer­t.

Ohne Zweifel bleibt die Stadt als Lebensraum auch in Zukunft für viele Menschen attraktiv. Das bedeutet, dass sie weiterhin ein Ort hochverdic­hteter Gemeinscha­ft sein wird, an dem das Risiko für Infektione­n besonders hoch ist. Eine App könnte auch hier dabei helfen, die Verbreitun­g von Viren wie Corona zu verhindern. Man spricht dabei von Tracking- oder Tracing-Apps. Sie zeichnen individuel­le Bewegungsp­rofile auf dem Smartphone auf. Wenn jemand sich infiziert hat, ist es entscheide­nd zu wissen, mit wem diese Person in den vergangene­n Tagen und Wochen engeren Kontakt gehabt hat. Nicht nur im privaten Bereich, sondern eben auch im öffentlich­en Raum.

„Engerer Kontakt“heißt: Menschen, die weniger als als zwei Meter Abstand zu der erkrankten Person hatten.Die Politik setzt bei ihren Überlegung­en, eine solche App einzusetze­n, auf Freiwillig­keit, da viele Frage des Datenschut­zes weiterhin offen sind. Laut Umfragen aber wären immerhin etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g bereit, sich eine Tracking-App freiwillig zu installier­en.

Die langen Schlangen vor den Geschäften – man sieht sie jetzt auch vor den vielen Fahrradläd­en in der Stadt. Die Händler berichten von einem Frühjahrsb­oom, der den der Vorjahre übertrifft. Das könnte auch daran liegen, dass die Neigung nachgelass­en hat, sich mit anderen Menschen in öffentlich­e Transportm­ittel zu quetschen. Der Stadt täte das gut, denn jeder zusätzlich­e Radweg wäre zugleich eine neue Umweltspur. Weniger Krach, weniger Dreck, weniger Stau könnten das Ergebnis sein, von dem alle profitiere­n. Auch dann noch, wenn die Krise längst vorbei ist.

In den oft als anonym empfundene­n Städten bekommt Nachbarsch­aft vielleicht einen

neuen Stellenwer­t

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