Das Prinzip „Bei uns“
Die Corona-Krise ermöglicht Einblicke, wie unser lokales Miteinander funktioniert.
Wer über Beziehungen redet, spricht gern vom „Bei uns“. Wer vom „Bei uns ist das so!“erzählt, berichtet aus eigener Sicht und Erfahrung, wie sein persönliches Umfeld eine Situation oder Krise, das Mit- oder Gegeneinander regelt oder meistert. Dabei meint „Bei uns“das Zuhause ebenso wie die nächste Nachbarschaft, das Dorf oder den Ortsteil, die Stadt oder Region. „Bei uns“beschreibt Zugehörigkeit und Eigenständigkeit, Ich-Sicht und Gemeinsinn. „Bei uns“lässt das Bild der Familie entstehen, zeigt die Verhältnisse im Verein, verdeutlicht Strukturen vor Ort, verbindet das Kleine mit dem Großen und Ganzen. „Bei uns“beschreibt spürbare Nähe. „Bei uns“vermittelt das Gefühl von Geborgenheit.
Was aber bleibt von Nähe und Geborgenheit, wenn „Bei uns“Abstandhalten zur allgemeinen Pflicht wird, wenn die Umarmung untersagt ist, das Miteinander an Theke oder Stammtisch, im Stadion oder beim Schützenfest unter Strafe steht. Wer jetzt glaubt, durch die beginnenden Lockerungen würde „Bei uns“jetzt alles wie früher, irrt. Die Pandemie hält uns im Bann – wohl noch über Monate, wenn nicht Jahre.
Wie sich der Zusammenhalt trotz Kontaktsperre erhalten lässt, entscheidet über die Zukunftsfähigkeit von Gemeinschaften. Das gilt für Familien ebenso wie für Vereine. Wie das „Bei uns“gelingt, ist dabei eine Gemeinschaftsaufgabe. Das zeigt sich in diesen Wochen insbesondere bei Vereinigungen, die sich neue, soziale Aufgaben gesucht haben, weil der eigentliche Vereinszweck in Sport oder Geselligkeit, in Brauchtum oder Kultur als Fernbeziehung kaum noch zu erfüllen ist. Wer jetzt andere aktiv unterstützt, hilft damit auch seinem Verein. Schließlich gilt: Wer keine Aufgabe hat, gibt sich auf.
Wo Begegnung Kernzweck des Miteinanders ist, führt der fehlende Kontakt zur Entfremdung. Ob so manches Zusammensein der Vergangenheit tatsächlich sinnvoll war, ist dabei unerheblich. Wenn der Zusammenhalt Freude gemacht hat, weil bei Bier oder Wein, bei
Spiel oder Musik frohe Stunden verbracht wurden, reicht das oft schon für gute, stärkende Gemeinschaft. Manchmal geht es einfach nur darum, sich zu sehen und zu sprechen.
Wenn diese Kommunikation unterbunden ist, fehlt etwas Grundlegendes: das gute Gefühl, nicht allein zu sein. Darum brauchen jetzt nicht nur Vereine andere Formen des Miteinanders, um den Kontakt nicht zu verlieren. Schließlich gilt: Wer aus dem Gedächtnis verschwindet, ist als Freund verloren. Deshalb haben die sozialen Medien Zulauf selbst aus traditionellsten Kreisen, wird Whatsapp auch für Ältere zur virtuellen Plauderstube, ist der Chatroom die neue Begegnungsstätte. Und die Vereine: Manche machen es wie Merkel oder Laschet, halten (Video-)Reden ans Volk und geben mehr oder weniger gute Ratschläge. Was einzig zählt, ist der regelmäßige Kontakt. Wenn auch „Schau mir in die Augen“per GoToMeeting nur eingeschränkt möglich ist, zählt doch schon die Wahrnehmung. Und selbst der schlichte Festnetzanruf kann persönliche Seelsorge sein.
Wer in diesen Zeiten Sorge hat, ob die Beziehung hält, muss sich zweierlei fragen: 1. War das Miteinander eh schon gefährdet? 2. Habe ich genug dafür getan, den Kontakt zu halten? Und auch für Vereinigungen gilt, was in der Betriebswirtschaftslehre vermittelt wird: Wer nicht aufgestellt ist, kann Krisen kaum überstehen. Dann ist die Krise nicht Ursache für das (Vereins-) Sterben, sondern lediglich der Moment, der das Absehbare zur Gewissheit macht.
Wenn wir nach einem Maßstab für den Erfolg des „Bei-uns-Modells“suchen, dann ist es der Vermissensfaktor, wie er für Produkte im Marketing beschrieben wird. Solange mir die Freunde fehlen, ich das Miteinander vermisse, mir das Ziel wichtig ist, bleibe ich verbunden. Auch ohne persönlichen Kontakt, ohne Schützenzug oder Festversammlung, ohne Stadionbesuch oder Debattenmarathon.
Die Krise beinhaltet die Herausforderung, sich nötigenfalls neu zu erfinden, die neue Normalität als Chance zur Selbstfindung zu nutzen. So kann „Bei uns“auch Widerspruch beinhalten („Bei uns ist das anders“) und Mahnung sein („… macht das keiner mit“). „Bei uns“verschafft Einblicke, die ein Sittengemälde möglich machen – gerade in Zeiten der Krise.
Selbst der schlichte Festnetzanruf kann in
diesen Zeiten persönliche Seelsorge
sein