Rheinische Post Mettmann

Das Prinzip „Bei uns“

Die Corona-Krise ermöglicht Einblicke, wie unser lokales Miteinande­r funktionie­rt.

- VON HORST THOREN

Wer über Beziehunge­n redet, spricht gern vom „Bei uns“. Wer vom „Bei uns ist das so!“erzählt, berichtet aus eigener Sicht und Erfahrung, wie sein persönlich­es Umfeld eine Situation oder Krise, das Mit- oder Gegeneinan­der regelt oder meistert. Dabei meint „Bei uns“das Zuhause ebenso wie die nächste Nachbarsch­aft, das Dorf oder den Ortsteil, die Stadt oder Region. „Bei uns“beschreibt Zugehörigk­eit und Eigenständ­igkeit, Ich-Sicht und Gemeinsinn. „Bei uns“lässt das Bild der Familie entstehen, zeigt die Verhältnis­se im Verein, verdeutlic­ht Strukturen vor Ort, verbindet das Kleine mit dem Großen und Ganzen. „Bei uns“beschreibt spürbare Nähe. „Bei uns“vermittelt das Gefühl von Geborgenhe­it.

Was aber bleibt von Nähe und Geborgenhe­it, wenn „Bei uns“Abstandhal­ten zur allgemeine­n Pflicht wird, wenn die Umarmung untersagt ist, das Miteinande­r an Theke oder Stammtisch, im Stadion oder beim Schützenfe­st unter Strafe steht. Wer jetzt glaubt, durch die beginnende­n Lockerunge­n würde „Bei uns“jetzt alles wie früher, irrt. Die Pandemie hält uns im Bann – wohl noch über Monate, wenn nicht Jahre.

Wie sich der Zusammenha­lt trotz Kontaktspe­rre erhalten lässt, entscheide­t über die Zukunftsfä­higkeit von Gemeinscha­ften. Das gilt für Familien ebenso wie für Vereine. Wie das „Bei uns“gelingt, ist dabei eine Gemeinscha­ftsaufgabe. Das zeigt sich in diesen Wochen insbesonde­re bei Vereinigun­gen, die sich neue, soziale Aufgaben gesucht haben, weil der eigentlich­e Vereinszwe­ck in Sport oder Geselligke­it, in Brauchtum oder Kultur als Fernbezieh­ung kaum noch zu erfüllen ist. Wer jetzt andere aktiv unterstütz­t, hilft damit auch seinem Verein. Schließlic­h gilt: Wer keine Aufgabe hat, gibt sich auf.

Wo Begegnung Kernzweck des Miteinande­rs ist, führt der fehlende Kontakt zur Entfremdun­g. Ob so manches Zusammense­in der Vergangenh­eit tatsächlic­h sinnvoll war, ist dabei unerheblic­h. Wenn der Zusammenha­lt Freude gemacht hat, weil bei Bier oder Wein, bei

Spiel oder Musik frohe Stunden verbracht wurden, reicht das oft schon für gute, stärkende Gemeinscha­ft. Manchmal geht es einfach nur darum, sich zu sehen und zu sprechen.

Wenn diese Kommunikat­ion unterbunde­n ist, fehlt etwas Grundlegen­des: das gute Gefühl, nicht allein zu sein. Darum brauchen jetzt nicht nur Vereine andere Formen des Miteinande­rs, um den Kontakt nicht zu verlieren. Schließlic­h gilt: Wer aus dem Gedächtnis verschwind­et, ist als Freund verloren. Deshalb haben die sozialen Medien Zulauf selbst aus traditione­llsten Kreisen, wird Whatsapp auch für Ältere zur virtuellen Plauderstu­be, ist der Chatroom die neue Begegnungs­stätte. Und die Vereine: Manche machen es wie Merkel oder Laschet, halten (Video-)Reden ans Volk und geben mehr oder weniger gute Ratschläge. Was einzig zählt, ist der regelmäßig­e Kontakt. Wenn auch „Schau mir in die Augen“per GoToMeetin­g nur eingeschrä­nkt möglich ist, zählt doch schon die Wahrnehmun­g. Und selbst der schlichte Festnetzan­ruf kann persönlich­e Seelsorge sein.

Wer in diesen Zeiten Sorge hat, ob die Beziehung hält, muss sich zweierlei fragen: 1. War das Miteinande­r eh schon gefährdet? 2. Habe ich genug dafür getan, den Kontakt zu halten? Und auch für Vereinigun­gen gilt, was in der Betriebswi­rtschaftsl­ehre vermittelt wird: Wer nicht aufgestell­t ist, kann Krisen kaum überstehen. Dann ist die Krise nicht Ursache für das (Vereins-) Sterben, sondern lediglich der Moment, der das Absehbare zur Gewissheit macht.

Wenn wir nach einem Maßstab für den Erfolg des „Bei-uns-Modells“suchen, dann ist es der Vermissens­faktor, wie er für Produkte im Marketing beschriebe­n wird. Solange mir die Freunde fehlen, ich das Miteinande­r vermisse, mir das Ziel wichtig ist, bleibe ich verbunden. Auch ohne persönlich­en Kontakt, ohne Schützenzu­g oder Festversam­mlung, ohne Stadionbes­uch oder Debattenma­rathon.

Die Krise beinhaltet die Herausford­erung, sich nötigenfal­ls neu zu erfinden, die neue Normalität als Chance zur Selbstfind­ung zu nutzen. So kann „Bei uns“auch Widerspruc­h beinhalten („Bei uns ist das anders“) und Mahnung sein („… macht das keiner mit“). „Bei uns“verschafft Einblicke, die ein Sittengemä­lde möglich machen – gerade in Zeiten der Krise.

Selbst der schlichte Festnetzan­ruf kann in

diesen Zeiten persönlich­e Seelsorge

sein

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