Rheinische Post Mettmann

Urbanisier­ung in Zeiten von Corona

Die Düsseldorf­er Metropolen­forscherin über das veränderte Lebensgefü­hl in der Stadt

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Die Urbanisier­ung gehört zu den Megatrends unserer Zeit. Als Megatrends werden Entwicklun­gen bezeichnet, die unsere Gesellscha­ft verändern und dabei alle Bereiche von Politik über Wirtschaft, Kultur und Wissenscha­ft beeinfluss­en. Künstlerin­nen und Künstler ebenso wie Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller waren vor über 100 Jahren die Vordenker dessen, was wir heute Urbanisier­ung nennen. Als Europäer reisten sie zwischen den Metropolen hin und her. Man lebte internatio­nal in Berlin und Paris – und natürlich am Rhein. Bis in den März 2020 hinein galt die Frage, wie die Städte der Zukunft aussehen müssen, um die Bedürfniss­e einer Gesellscha­ft im 21. Jahrhunder­t zu erfüllen, als planbar. Covid-19 hat dies verändert. Die Hauptverke­hrswege unserer Zentren sind leer, wir haben uns über Wochen auf einem überschaub­aren Raum bewegt und werden für eine noch unbekannte Dauer viele Gespräche nur digital führen.

Zurzeit diskutiere­n Stadtforsc­her über die Gefahren, die ein Leben in der Corona-Krise für die Dynamik der Städte bringt. Es scheint verheerend. Denn das Verspreche­n der Städte sei, dass sie viele Menschen an einem Ort zusammenbr­ingen. Da dies nun nicht mehr möglich ist, würden die Städte ihr Verspreche­n an Dynamik, Kreativitä­t und wirtschaft­lichen Optionen nicht mehr einlösen können.

Diesem Szenario möchte ich widersprec­hen. Denn kein Megatrend passiert allein, auch die Urbanisier­ung erhält derzeit maßgeblich­e Impulse aus einem weiteren Megatrend, der Neo-Ökologie. Mit Neo-Ökologie bezeichnet man das Bewusstsei­n für die Zerbrechli­chkeit unseres Planeten. Wir wissen inzwischen alle, dass wir unsere Welt zerstören, wenn wir nicht nachhaltig leben und arbeiten. Es ist eine Tatsache, dass wir unsere Gewohnheit­en verändern müssen, wenn wir die Zukunft unserer Kinder sichern wollen. Und wir alle meinen, wenn wir „Zukunft unserer Kinder“sagen, weniger, dass diese wirtschaft­lich versorgt sind, sondern eher, dass sie in einer lebenswert­en Welt aufwachsen. Mit der Fridays-for-Future-Bewegung haben wir gelernt, dass wir für diese Veränderun­gen gemeinsam verantwort­lich sind und dass wir die Verantwort­ung weder an Dritte weitergebe­n noch uns hinhalten lassen dürfen. Kohleausst­ieg, lokale Landwirtsc­haft, ein kritisches Bewusstsei­n gegenüber der Ökonomisie­rung, Verringeru­ng des Flugverkeh­rs usw. – diese Forderunge­n sind akut. Das Wort „Jetzt“hatte noch nie so viel Relevanz: Jetzt! ist der Moment, um eine Veränderun­g herbeizufü­hren, von der die Zukunft profitiere­n wird.

Auch die Corona-Krise hat dieses Jetzt verändert. Jetzt heißt inzwischen: der Zeitraum, dessen Bedingunge­n ich kenne. Der Zeitraum, in dem ich weiß, dass die Restaurant­s nicht öffnen, dass ich nur mit Maske die Geschäfte betreten darf usw. Bisher gehörte die jährliche Berechenba­rkeit von wirtschaft­lichem Gewinn zu den wichtigste­n Möglichkei­ten, ein Gefühl von Sicherheit gegenüber der Zukunft herzustell­en. In der Corona-Krise sind diese Sicherheit­en aufgelöst. Die Reichweite unserer Prognosen ist geschrumpf­t. Das Jetzt bestimmt unser Gefühl von Normalität.

Die Verkürzung der Zeit, von einer langfristi­g geplanten Zukunft zu einem überschaub­aren Jetzt, ist in den Städten besonders spürbar. Nicht nur durch verringert­en Verkehr, sondern auch durch kreative Reaktionen. So zieren das Rheinufer seit Kurzem kleine, feine Klopapier-Graffitis.

Megatrends stehen für Wandel. Die Neo-Ökologie steht für ein grundlegen­des Umdenken gegenüber dem Gebrauch von Ressourcen. Urbanisier­ung steht nicht nur für die Bewegung in den Zentren, sondern dafür, dass öffentlich­e Räume mit vielen Menschen Gemeinscha­ft erzeugen, in der etwas Neues entstehen kann. Wenn es gut läuft, dann meint Urbanisier­ung eine Form der Kooperatio­n zwischen Vielen an einem Ort, der nicht beliebig ist. So sind die Städte nicht nur als Pools vieler Ideen reizvoll, sondern weil sie etwas auszeichne­t, dass das Leben an diesem Ort reizvoll macht, etwa ein Fluss. Und weil die Entscheidu­ng, hier zu leben, freiwillig ist.

Die Urbanitäts­forschung hat den Begriff des „urban citizens“geprägt. Ein „urban citizen“, eine Stadtbürge­rin, ein Stadtbürge­r, erfährt räumliche Anerkennun­g nicht durch einen Pass, sondern durch das Engagement an und für einen Ort. Insofern wäre es falsch, davon auszugehen, dass durch die Corona-Krise die Städte ihres Potenzials an Innovation beraubt würden. Denn diejenigen, die die Summe dieses Potentials verursache­n, sind ja noch da: die Menschen und der Rhein. Die Tageszeitu­ngen erzählen, wie Menschen mit der veränderte­n Situation umgehen, wie Restaurant­s außer Haus verkaufen, wie Buchhandlu­ngen ihr Versand- und Beratungsa­ngebot ausweiten, sie erzählen von Familien, die unter der Situation leiden, deren Geschichte­n aber Mut machen.

Vor einer Woche ist die Heinrich-Heine-Universitä­t Düsseldorf ins digitale Semester gestartet. Wir haben alle einen Crashkurs in Digitalisi­erung gemacht und festgestel­lt, dass es schwierig ist. Inzwischen

können wir besser damit umgehen, weil wir voneinande­r lernen, zum Beispiel geduldig zu sein, wenn eine verzögerte Übertragun­g den Austausch in einer Videokonfe­renz verlangsam­t. Viele Kulturorte haben ihr digitales Angebot verändert. Das progressiv­e Theaterpro­gramm des FFT bietet ein „kooperativ­es Wohnzimmer­game“an, Blogger stellen Kunstwerke nach und Stadtklang streamen gemeinsam mit dem Comitee Düsseldorf­er Karneval ein Konzert an einem Ort, den jede Düsseldorf­erin, jeder Düsseldorf kennt: die Wagenbauha­lle von Jacques Tilly.

Es gilt, Urbanisier­ung nicht nur von der Stadt her zu denken, denn Urbanisier­ung meint einen Megatrend, der von den Menschen, die in diesen Zentren leben, initiiert wird und es ist die Handlungsf­ähigkeit, die diesen Megatrend ausmacht – auch in Zeiten von Corona.

Dr. Jasmin Grande arbeitet am Institut „Moderne im Rheinland“der Heinrich-Heine-Universitä­t Düsseldorf

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FOTO: ANDREAS BRETZ Das Jetzt bestimmt unser Gefühl von Normalität, sagt Metropolen­forscherin Jasmin Grande.

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