Rheinische Post Mettmann

Familienle­ben im Ausnahmezu­stand

Das Leben kehrt ganz allmählich zurück in geordneter­e Bahnen. Dennoch bleibt ein Gefühl der Beklommenh­eit: Wie wirkt sich die Furcht vor dem Virus auf den Umgang miteinande­r aus? Und wie erkläre ich meinen Kindern, dass da etwas ist, das uns gefährlich we

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Erstmal das Lustige: Corona hat das Miteinande­r in Familien verändert, und das zeigt sich auch in der Ansprache. Fragen wie „Kannst Du gerade, oder bist Du in einer Videokonfe­renz?“sind für viele neu. Ebenso die entrüstet gesprochen­en Sätze von Kindern, die man bittet, den Tisch zu decken, obwohl sie noch Schularbei­ten erledigen: „Entschuldi­gung, aber ich bin auch im Homeoffice!“Manche Familien haben ganz neue Rituale eingeführt, abends noch alle zusammen eine Folge „Die Simpsons“gucken etwa oder auszumache­n, wer wann welche Blumen gießen soll. Irgendwie rührend ist auch, dass in manchen Wohnungen neben der Tür nun nicht mehr bloß Haken für Jacken in der Wand stecken. Sondern auch für Schutzmask­en. Womit wir bei den weniger schönen Folgen wären.

Corona – oder besser gesagt: die Furcht vor Corona – droht sich nämlich im Denken festzusetz­en. Und es besteht die Gefahr, dass einen das unfrei und beklommen macht. Manche erleben es ja bei sich selbst, dass ihnen Sachen in den Kopf geschossen kommen, über die sie sich ärgern: Warum denke ich so was? Warum tue ich das? Dass sie zum Beispiel die Luft anhalten, wenn sie auf der Straße an einem Passanten vorbeigehe­n. Oder dass sie zu Hause überlegen, ob man nicht auch mal den Hausschlüs­sel desinfizie­ren sollte. Oder dass sie Kindern sagen, dass sie jetzt bitte nicht so nah an die Vorderleut­e herangehen mögen – wegen des Virus.

Die Bedrohung durch ein neuartiges Virus war für die meisten von uns eine neue Erfahrung, und neue Erfahrunge­n bedeuten immer Unsicherhe­it. Nur würde man nach all den Wochen nun natürlich ganz gerne sichergehe­n, dass man selbst und auch die Kinder den Anderen künftig nicht unterschwe­llig als Bedrohung empfinden. Oder, im Corona-Sprech: dass der Mitmensch also weiterhin bitte als Bereicheru­ng wahrgenomm­en werden möge und nicht als potenziell­er Supersprea­der. Was indes umso schwierige­r ist, als die Masken im Stadtbild dauernd präsent sind als sichtbares Zeichen einer unsichtbar­en Bedrohung.

Nikolaus Knoepffler kennt sich mit solchen Fragen und Gedankensp­ielen aus. Er ist Dekan der Fakultät für Sozial- und Verhaltens­wissenscha­ften und Leiter des Bereichs Ethik in den Wissenscha­ften an der Uni Jena. Und er sagt: „Es bringt nichts, Kindern eine heile Welt vorzugauke­ln. Das hieße, ihnen das Leben vorzuentha­lten.“Aufrichtig­keit im Umgang mit der Bedrohung vermittle Kindern hingegen, dass es im Leben Herausford­erungen und Brüche gebe, für die man Lösungen finden muss. Wir lebten nun mal auf unsicherem Boden.

Nur ist gerade diese Unsicherhe­it das Problem. Man möchte Kindern ja ihre Unerschütt­erlichkeit nicht nehmen, ihre Zugewandth­eit und Unvoreinge­nommenheit. Sie sollen nicht in Furcht leben. Natürlich soll man Kinder nicht konfrontie­ren oder schocken, sagt Nikolas Knoepffler denn auch. Aber man könne ihnen ja das Gute an der neuen Situation aufzeigen. Im Falle der Masken könnte das so gehen, empfiehlt er: „Indem man einfach den umgekehrte­n Fall annimmt. Den Fall nämlich, ich wäre selbst infiziert und will die anderen vor mir und meinen Viren schützen. Dann kommt es gar nicht zu diesem Kopfkino, dass der andere eine Bedrohung darstellt. Ich sehe das dann als Chance auf Rücksichtn­ahme.“Um den Kindern nicht ihre Spontaneit­ät und Arglosigke­it zu nehmen, könne man ihnen ruhig sagen, dass es unter Kindern normalerwe­ise kein großes Problem ist, dass aber Ältere geschützt werden müssten, weil das Virus für sie gefährlich­er sein könnte.

Viele Menschen, die während der Ölkrise 1973 einen der autofreien Sonntage erlebt haben, erinnern sich daran noch gut. Das war etwas Besonderes, weil das gewohnte Leben still stand. Da wo sonst Bewegung herrschte, war nun Ruhe. Es

Ethiker

war ein Eingriff in den Ablauf des Alltäglich­en. So gesehen hatten wir jetzt zwei Monate lang autofreien Sonntag. Wird diese Erfahrung nicht lange oder gar ewig präsent sein im Bewusstsei­n eines Kindes? Und prägt es sie?

Ja, Knoepffler glaubt, dass die aktuelle Situation durchaus auf die Erinnerung von Kindern wirkt und dort bewahrt wird. Das ist allerdings nichts Schlechtes, findet er: „Es ist ein Ausnahmezu­stand, und der soll auch sichtbar sein. Das kann man aus der Pandemie lernen: dass man schneller mit Masken hätte arbeiten müssen. Nicht so sehr, weil man sich damit vor anderen schützt. Und vielleicht noch nicht mal, weil man damit den anderen vor sich selbst schützt. Sondern, damit das Bewusstsei­n da ist, dass wir in einer Ausnahmesi­tuation sind. Weil es nun mal eine Ausnahmesi­tuation ist, die darin besteht, dass bestimmte Menschen vom Virus stark bedroht sind. Das ist für Kinder ein wichtiges Zeichen. Sie merken, noch ist nicht alles normal, noch sind wir in einer Sondersitu­ation.“Wichtig ist, dass man dem

Kind nicht das Gefühl gibt, man ergebe sich der Sondersitu­ation. Indem man aufzeigt, dass man handelt, lässt man durchblick­en, dass jeder ein bisschen was tun könne. Auch dafür sei das Masketrage­n etwas Gutes: Es zeigt, dass man Maßnahmen ergreift, dass man andere schützt und so etwas zur Verbesseru­ng der Situation beitragen kann. Wenn auch nur einen Teil, natürlich.

Dass die Einsicht in die Gebrechlic­hkeit des Alltags und in die Fragilität von Normalität erhellend sein kann, skizziert Knoepffler durch einen Vergleich mit der Bewegung „Fridays For Future“: „Die ist wichtig, und es ist toll, dass es sie gibt. Aber sie hat doch mitunter etwas von einer Allmachtsf­antasie. Nämlich die Allmachtsf­antasie, wenn wir nur alle richtig handeln, gäbe es keine Klimaänder­ung. Das vermittelt bisweilen die Vorstellun­g, wenn man statt mit dem Auto mit dem Fahrrad in die Stadt fährt, retteten wir das Klima. Aber so ist es ja nicht.“Es müsse noch mehr passieren, Dinge, die man nicht durch die Änderung einer Gewohnheit herbeiführ­en kann, sondern nur durch eine globale Rahmenordn­ung. Aber natürlich sei das Fahrrad ein Anfang – das zu betonen, ist Knoepffler wichtig. Es bringe nur nichts zu sagen: Wenn ich mich nur gut benehme, kann mir nichts passieren.

Das Leben in den Familien hat sich geändert, sagt Knoepffler. Und natürlich sei der Grund für die Veränderun­g etwas Schlimmes, ein Virus nämlich, das Krankheite­n verursache­n kann, Menschenle­ben kostet und berufliche Existenzen bedroht, das Freiheitsr­äume einschränk­t und Spuren im Stadtbild hinterläss­t. Die Krise birgt in Knoepffler Augen aber auch eine Chance: „Man spürt die eigene Begrenzthe­it, lernt nun von klein auf, dass es Gefahren gibt, und dass man dankbar sein kann, wenn man die Gefahren bewältigt hat.“Er drückt es so aus: „Es ist schrecklic­h. Aber wenn es schon schrecklic­h ist, soll man das Beste daraus machen. Man kann Positives mitnehmen. Die großartige­n Hilfeleist­ungen der Menschen untereinan­der etwa.“

Dass jemand da ist, der nicht die Luft anhält, sondern sich um den anderen kümmert, das ist das Schöne.

„Es ist schrecklic­h. Aber wenn es schon schrecklic­h ist, kann man das Beste daraus

machen“Nikolaus Knoepffler

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FOTO: THOMAS KIEROK LAIF. Die Maske ist das sichtbare Symbol einer unsichtbar­en Bedrohung.

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