Corona schreibt schon Geschichte
Ist das historisch, oder wird die Nachwelt die Corona-Krise vergessen? Wissenschaftler machen sich darüber Gedanken – und tun alles dafür, dass ihre Kollegen der Zukunft auf Quellen des Alltags zurückgreifen können.
Corona hat das Leben ausgebremst – und zugleich extrem beschleunigt. Wer kann sich noch wirklich in die Gefühlslage der ersten Wochen zurückversetzen, als noch so wenig bekannt war über das Virus, die schrecklichen Nachrichten und Bilder aus Spanien und Italien zu uns drangen und in Deutschland die Infektionszahlen nach oben schnellten? Sich dieses Lebensgefühl zu vergegenwärtigen, ist schwer, und vielleicht hat es auch damit zu tun, dass in diesen Tagen Menschen mit kruden Vorstellungen von der Pandemie auf die Straße drängen und stoisch behaupten, es sei nichts gewesen. Der Kampf um die Deutung von Corona hat begonnen, und das berührt auch die Frage, ob Corona einmal als historische Zäsur gelten wird.
Die Historiker der Zukunft müssen das entscheiden, darüber diskutiert wird in Fachkreisen schon jetzt. Denn womöglich sollten gerade jetzt Zustände, die flüchtig sind, für die Nachwelt festgehalten werden. Die enorme Ungewissheit der ersten Phase etwa. Ohne sich dieses Lebensgefühl zu vergegenwärtigen, sind die Entscheidungen dieser Zeit ja kaum zu verstehen. Doch wie lässt sich etwas Immaterielles wie existenzielle Verunsicherung für die Nachwelt bewahren?
Diese Frage hat sich Christian Bunnenberg, Geschichtsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum, gestellt und zu Beginn der Krise einen entsprechenden Tweet abgesetzt. Daraufhin meldeten sich zahlreiche Kollegen mit Ideen zu diesem Thema. Nur wenige Tage später hatte Bunnenberg mit Historikern von den Universitäten Gießen und Hamburg das erste Corona-Archiv ins Leben gerufen – digital natürlich.
Beteiligen kann sich jeder. Auf der Internetseite coronarchiv.de sind Bürger eingeladen, Fotos, Texte, Filme oder Audios hochzuladen, in denen sich ihre Erfahrungen mit der Corona-Krise spiegeln. „Im Moment ist das nur eine subjektive Gegenwartsbeobachtung“, sagt Christian Bunnenberg, „die Kollegen der Zukunft müssen entscheiden, was für sie Quellenwert besitzt, um eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte der Corona-Zeit zu schreiben.“Bunnenberg hat vor Corona unter anderem die Tourismusgeschichte des 19. Jahrhunderts erforscht und weiß um den Wert von Alltagszeugnissen. Darum möchten er und seine Kollegen die Beobachtungen aus der Corona-Zeit nun unbedingt bewahren. Am 26. März ging das immaterielle Archiv online, seither sind bereits über 1500 Dateien eingestellt worden. Anfangs kreisten viele Einsendungen um das Thema Hamstern, dann um Distanz und Einsamkeit, inzwischen geht es um den Umgang mit dem neuen Alltag. Auch einige Stadtarchive und Museen haben inzwischen begonnen, den Corona-Alltag zu dokumentieren. Das Stadtarchiv Düsseldorf etwa möchte Pandemie-Tagebücher von Bürgern sichten. Das Kölnische Stadtmuseum sammelt auch Gegenstände. Erstes inventarisiertes Stück ist ein Merkblatt der Stadt zum Thema „Umgang mit Corona“.
„Viele Menschen haben das Gefühl, wenn später Geschichte geschrieben wird, liege der Fokus auf Politik- oder Medizingeschichte, und ihre Erfahrungen seien nicht wichtig“, sagt Bunnenberg. Darum gebe es diesen Drang, selbst festzuhalten, was man gerade erlebt – und das anderen mitzuteilen. Das Corona-Archiv sei darum auch ein Ventil.
Das Bestreben, Geschichte nicht nur aus der Sicht der Mächtigen zu schreiben, ist nicht neu. Schon im 20. Jahrhundert gab es solche Ansätze etwa in der Arbeiter- und Frauenbewegung. In den 1970er und 80er Jahren wurden an vielen Orten Geschichtsvereine gegründet, auch um zu verstehen, was im eigenen Land während der Nazi-Zeit passiert war. Mit der Digitalisierung hat die Masse an Alltagsquellen deutlich zugenommen. Das ruft nach neuen Sichtungsmöglichkeiten etwa durch Big-Data-Analysen. Die Fragestellungen künftiger Historiker kann heute noch keiner kennen, aber das Material für sie muss heute bereitgestellt werden.
Aus Gegenwart wird Vergangenheit wird Vergessen – es sei denn, Menschen erklären etwas, das sich ereignet hat, zur Geschichte. Dafür bedürfe es eines Fluchtpunkts, eines Moments im Zeitgeschehen, auf den sich spätere Ereignisse zurückführen lassen, sagt der Geschichtsprofessor Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Diese Fluchtpunkte seien nicht beliebig, sie träten hervor, wenn die langfristigen Folgen ein Ereignis aus dem Kontinuum des Geschehens hervorhöben.
Allerdings haben Fluchtpunkte nicht immer Bestand. Das Millennium etwa wurde 1999 zum Jahrtausendereignis erklärt, doch schon kurze Zeit später war es vergessen – ein vermeintlicher Fluchtpunkt verblasste. Selbst die Zäsur des Terrorakts von 9/11 hat sich als weniger einschneidend entpuppt, als viele zunächst empfunden haben. „Menschen neigen dazu, schnell historische Ereignisse auszurufen“, sagt Sabrow, „das hilft, mit dem Einbruch des Unerwarteten umzugehen.“Das zeige sich bei Corona etwa an den Pandemie-Tagebüchern, die vielerorts verfasst werden. Sabrow hält es aber im Fall von Corona für wahrscheinlich, dass auch künftige Generationen von einer historischen Zäsur sprechen werden.
Der Wissenschaftler teilt den Prozess der Historisierung in Phasen ein. Dazu zählt etwa, dass ein Ereignis am Anfang als völlig unerwartbar empfunden wird, dass es Zeitzeugen veranlasst, Belege zu sammeln und Chronologien aufzustellen. Irgendwann werden historische Parallelen gezogen, Fachleute treten auf, die das Ereignis als logische Folge bestimmter Entwicklungen darstellen, schließlich integrieren Historiker späterer Generationen das Ereignis in die große, historische Meistererzählung ein. All diese Phasen seien bei Corona schon jetzt erkennbar, sagt Sabrow. Corona ist auf dem Weg in die Geschichtsbücher.
Das Corona-Archiv rückt Erfahrungen
des Alltags in den Blick der Geschichtsschreibung