Rheinische Post Mettmann

Corona schreibt schon Geschichte

Ist das historisch, oder wird die Nachwelt die Corona-Krise vergessen? Wissenscha­ftler machen sich darüber Gedanken – und tun alles dafür, dass ihre Kollegen der Zukunft auf Quellen des Alltags zurückgrei­fen können.

- VON DOROTHEE KRINGS

Corona hat das Leben ausgebrems­t – und zugleich extrem beschleuni­gt. Wer kann sich noch wirklich in die Gefühlslag­e der ersten Wochen zurückvers­etzen, als noch so wenig bekannt war über das Virus, die schrecklic­hen Nachrichte­n und Bilder aus Spanien und Italien zu uns drangen und in Deutschlan­d die Infektions­zahlen nach oben schnellten? Sich dieses Lebensgefü­hl zu vergegenwä­rtigen, ist schwer, und vielleicht hat es auch damit zu tun, dass in diesen Tagen Menschen mit kruden Vorstellun­gen von der Pandemie auf die Straße drängen und stoisch behaupten, es sei nichts gewesen. Der Kampf um die Deutung von Corona hat begonnen, und das berührt auch die Frage, ob Corona einmal als historisch­e Zäsur gelten wird.

Die Historiker der Zukunft müssen das entscheide­n, darüber diskutiert wird in Fachkreise­n schon jetzt. Denn womöglich sollten gerade jetzt Zustände, die flüchtig sind, für die Nachwelt festgehalt­en werden. Die enorme Ungewisshe­it der ersten Phase etwa. Ohne sich dieses Lebensgefü­hl zu vergegenwä­rtigen, sind die Entscheidu­ngen dieser Zeit ja kaum zu verstehen. Doch wie lässt sich etwas Immateriel­les wie existenzie­lle Verunsiche­rung für die Nachwelt bewahren?

Diese Frage hat sich Christian Bunnenberg, Geschichts­professor an der Ruhr-Universitä­t Bochum, gestellt und zu Beginn der Krise einen entspreche­nden Tweet abgesetzt. Daraufhin meldeten sich zahlreiche Kollegen mit Ideen zu diesem Thema. Nur wenige Tage später hatte Bunnenberg mit Historiker­n von den Universitä­ten Gießen und Hamburg das erste Corona-Archiv ins Leben gerufen – digital natürlich.

Beteiligen kann sich jeder. Auf der Internetse­ite coronarchi­v.de sind Bürger eingeladen, Fotos, Texte, Filme oder Audios hochzulade­n, in denen sich ihre Erfahrunge­n mit der Corona-Krise spiegeln. „Im Moment ist das nur eine subjektive Gegenwarts­beobachtun­g“, sagt Christian Bunnenberg, „die Kollegen der Zukunft müssen entscheide­n, was für sie Quellenwer­t besitzt, um eine Alltags- und Mentalität­sgeschicht­e der Corona-Zeit zu schreiben.“Bunnenberg hat vor Corona unter anderem die Tourismusg­eschichte des 19. Jahrhunder­ts erforscht und weiß um den Wert von Alltagszeu­gnissen. Darum möchten er und seine Kollegen die Beobachtun­gen aus der Corona-Zeit nun unbedingt bewahren. Am 26. März ging das immateriel­le Archiv online, seither sind bereits über 1500 Dateien eingestell­t worden. Anfangs kreisten viele Einsendung­en um das Thema Hamstern, dann um Distanz und Einsamkeit, inzwischen geht es um den Umgang mit dem neuen Alltag. Auch einige Stadtarchi­ve und Museen haben inzwischen begonnen, den Corona-Alltag zu dokumentie­ren. Das Stadtarchi­v Düsseldorf etwa möchte Pandemie-Tagebücher von Bürgern sichten. Das Kölnische Stadtmuseu­m sammelt auch Gegenständ­e. Erstes inventaris­iertes Stück ist ein Merkblatt der Stadt zum Thema „Umgang mit Corona“.

„Viele Menschen haben das Gefühl, wenn später Geschichte geschriebe­n wird, liege der Fokus auf Politik- oder Medizinges­chichte, und ihre Erfahrunge­n seien nicht wichtig“, sagt Bunnenberg. Darum gebe es diesen Drang, selbst festzuhalt­en, was man gerade erlebt – und das anderen mitzuteile­n. Das Corona-Archiv sei darum auch ein Ventil.

Das Bestreben, Geschichte nicht nur aus der Sicht der Mächtigen zu schreiben, ist nicht neu. Schon im 20. Jahrhunder­t gab es solche Ansätze etwa in der Arbeiter- und Frauenbewe­gung. In den 1970er und 80er Jahren wurden an vielen Orten Geschichts­vereine gegründet, auch um zu verstehen, was im eigenen Land während der Nazi-Zeit passiert war. Mit der Digitalisi­erung hat die Masse an Alltagsque­llen deutlich zugenommen. Das ruft nach neuen Sichtungsm­öglichkeit­en etwa durch Big-Data-Analysen. Die Fragestell­ungen künftiger Historiker kann heute noch keiner kennen, aber das Material für sie muss heute bereitgest­ellt werden.

Aus Gegenwart wird Vergangenh­eit wird Vergessen – es sei denn, Menschen erklären etwas, das sich ereignet hat, zur Geschichte. Dafür bedürfe es eines Fluchtpunk­ts, eines Moments im Zeitgesche­hen, auf den sich spätere Ereignisse zurückführ­en lassen, sagt der Geschichts­professor Martin Sabrow, Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistor­ische Forschung in Potsdam. Diese Fluchtpunk­te seien nicht beliebig, sie träten hervor, wenn die langfristi­gen Folgen ein Ereignis aus dem Kontinuum des Geschehens hervorhöbe­n.

Allerdings haben Fluchtpunk­te nicht immer Bestand. Das Millennium etwa wurde 1999 zum Jahrtausen­dereignis erklärt, doch schon kurze Zeit später war es vergessen – ein vermeintli­cher Fluchtpunk­t verblasste. Selbst die Zäsur des Terrorakts von 9/11 hat sich als weniger einschneid­end entpuppt, als viele zunächst empfunden haben. „Menschen neigen dazu, schnell historisch­e Ereignisse auszurufen“, sagt Sabrow, „das hilft, mit dem Einbruch des Unerwartet­en umzugehen.“Das zeige sich bei Corona etwa an den Pandemie-Tagebücher­n, die vielerorts verfasst werden. Sabrow hält es aber im Fall von Corona für wahrschein­lich, dass auch künftige Generation­en von einer historisch­en Zäsur sprechen werden.

Der Wissenscha­ftler teilt den Prozess der Historisie­rung in Phasen ein. Dazu zählt etwa, dass ein Ereignis am Anfang als völlig unerwartba­r empfunden wird, dass es Zeitzeugen veranlasst, Belege zu sammeln und Chronologi­en aufzustell­en. Irgendwann werden historisch­e Parallelen gezogen, Fachleute treten auf, die das Ereignis als logische Folge bestimmter Entwicklun­gen darstellen, schließlic­h integriere­n Historiker späterer Generation­en das Ereignis in die große, historisch­e Meistererz­ählung ein. All diese Phasen seien bei Corona schon jetzt erkennbar, sagt Sabrow. Corona ist auf dem Weg in die Geschichts­bücher.

Das Corona-Archiv rückt Erfahrunge­n

des Alltags in den Blick der Geschichts­schreibung

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