Rheinische Post Mettmann

Europa vor Gericht

Erstmals hat das Bundesverf­assungsger­icht ein Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs für unanwendba­r erklärt. Ist Karlsruhe verrückt geworden? Vor allem erinnert das EZB-Urteil eindringli­ch daran, wie fragil die EU ist.

- VON HENNING RASCHE

Was ist die Europäisch­e Union? Auf diese schlichte wie komplizier­te Frage gibt es Antworten zur Genüge. Ein Zusammensc­hluss von Nationen, ein Friedensbü­ndnis, eine Wertegemei­nschaft. Alles nicht falsch. Vor allem aber ist die Europäisch­e Union eine Projektion­sfläche. Für die einen ist sie der Sargnagel der nationalen Autonomie, für die anderen der Schlüssel zur Freiheit. So ist die EU zu einem Wolkenkuck­ucksheim geworden.

Eine europäisch­e Lösung gilt mittlerwei­le als Allheilmit­tel der Politik: keine nationalen Alleingäng­e! Die EU soll Frieden in der Welt stiften, die globale Rolle der ausfallend­en USA einnehmen und die Flüchtling­e aller Länder aufnehmen. Nicht wenige haben der EU schon Allmacht attestiert.

Was ist die Europäisch­e Union? Selbstvers­tändlich hat auch das Bundesverf­assungsger­icht – dem manche unterstell­en, ebenfalls nicht mehr irdisch zu sein – eine Antwort auf diese Frage. Die EU sei ein „Staaten-, Verwaltung­s-, Verfassung­s- und Rechtsprec­hungsverbu­nd“. Das klingt nicht nach Allmacht, sondern nach Zentralrat der Fliesentis­chverleger. Das soll es auch.

Während die Welt gegen eine Pandemie kämpft, hadert Europa mal wieder mit der EU. Warum mussten in Italien Ärzte aus Kuba helfen, warum eilten die Chinesen und die Russen herbei (und die Deutschen nur so zaghaft)? In dieser seltsamen Phase, in der die Europäisch­e Union schon für tot erklärt worden ist, zerstört ausgerechn­et das Bundesverf­assungsger­icht weitere Träume. Mit dem EZB-Urteil hat das höchste deutsche Gericht das Wolkenkuck­ucksheim EU niedergeri­ssen.

Der Zweite Senat hat, erstmals in der Geschichte, ein Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) kassiert. Oder eher: in der Luft zerrissen. Der Bielefelde­r Europarech­tler Franz C. Meyer meint sogar, das Gericht habe eine

Atombombe gezündet. Es ist jedenfalls etwas ins Wanken geraten. Dass sich Richter Peter M. Huber, Berichters­tatter in dem Verfahren, genötigt sah, zwei Interviews zu dem Urteil zu geben, zeigt, dass auch in Karlsruhe klar ist, welche Stunde geschlagen hat.

Eigentlich hat das Bundesverf­assungsger­icht über das sogenannte PSPP-Verfahren der Europäisch­en Zentralban­k entschiede­n. Die EZB kauft seit Jahren Staatsanle­ihen im Milliarden­umfang. Weil die Karlsruher Richter glauben, dass die EZB damit Wirtschaft­spolitik betreibt, obwohl ihr Mandat das nicht deckt, haben sie den Fall dem EuGH vorgelegt. Der EuGH befand das Vorgehen der EZB allerdings für unproblema­tisch, weshalb Karlsruhe, nun ja, die Bombe platzen ließ und selbst entschied.

Das Urteil liest sich wie Korrekture­n der Klausur eines unbegabten Jurastuden­ten. Was der EuGH entschiede­n hat, sei „schlechter­dings nicht mehr nachvollzi­ehbar“, es sei „objektiv willkürlic­h“, schrieb der Zweite Senat. Der EuGH habe deswegen „ultra vires“gehandelt, also seine Kompetenze­n überschrit­ten. Herrje!

Das Verhältnis zwischen Bundesverf­assungsger­icht und EuGH ist seit Gründung der EU komplizier­t. Oft wurde es mit Eitelkeit der Richter begründet, dass sie einander nicht das letzte Wort gönnten. Eitelkeit ist bei den beiden Gerichten sicherlich im Spiel. Wichtiger aber ist, dass beide Gerichte sich durchaus jeweils für das wichtigste halten können. Der EuGH ist Hüter der europäisch­en Verträge. Und die Nationalst­aaten, also auch die nationalen Verfassung­sgerichte, sind die Herren der Verträge.

Hüter gegen Herren. Es ist klar, dass das zu Missverstä­ndnissen führt, und nun zu einem offenen Eklat zwischen Bundesverf­assungsger­icht und Europäisch­em Gerichtsho­f. Dieter Grimm, früher Richter in Karlsruhe, sagt: „Beide Gerichte kennen ihre wechselsei­tigen Standpunkt­e und beharren auf ihnen seit vielen Jahren.“Das jetzige

Urteil sei keine Überraschu­ng.

Die EU mag zwar vieles sein, aber ein Staat ist sie eben nicht. Der EuGH mag die Verträge hüten, aber die Mitgliedst­aaten bestimmen noch immer, was drinsteht. Das darf man traurig finden oder ungeschick­t, aber solange die EU nicht die Hürde zum Bundesstaa­t überwindet – und danach sieht es nun überhaupt nicht aus – bleibt das so.

Hans-Hugo Klein war 1993 Richter des Bundesverf­assungsger­ichts, als es um den Maastricht-Vertrag ging. Der Senat mit Klein legte damals fest, sich in einem „Kooperatio­nsverhältn­is“mit dem EuGH zu befinden und Rechtsakte der EU selbst nur noch zu beanstande­n, falls diese ihre Kompetenze­n überschrei­tet. Es war die Grundlage für das EZB-Urteil.

Klein verteidigt die aktuelle Entscheidu­ng. Auch Verfassung­sgerichte anderer Länder wie Dänemark hätten einzelne EuGH-Urteile schon für „ultra vires“erklärt. Klein sagt: „Nicht nur der EuGH, auch eine Reihe deutscher Politiker gibt sich der Illusion hin, dass die EU ist, was sie früher werden sollte: ein Staat.“Das ist sie nun mal nicht. Klein bezeichnet dies als die „Lebenslüge der EU“.

Und trotzdem glauben nicht wenige, dass das EZB-Urteil die Rechtsgeme­inschaft EU in Kalamitäte­n bringt. Die PiS-Regierung in Polen freut sich schon darauf, mit Verweis auf das weltweit angesehene Bundesverf­assungsger­icht dem EuGH den Stinkefing­er zu zeigen. Der scheidende Gerichtspr­äsident Andreas Voßkuhle sagte nun der „Zeit“: „Die Polen tun, was sie tun, unabhängig davon, was wir tun.“Das klingt wie: nicht unser Problem.

Das Wolkenkuck­ucksheim ist eingestürz­t, die Bombe explodiert, die EU droht Deutschlan­d mit einem Vertragsve­rletzungsv­erfahren, und die Richter zucken mit den Schultern. Das ist zumindest leichtfert­ig. Wenn man sich auf den Fall besinnt und schaut, was die EZB nun tun soll, dann ist es nicht nur leichtfert­ig, sondern auch unverhältn­ismäßig. Die EZB soll, grob gesagt, ihr Handeln besser erklären. Das hätte man doch nun wirklich leichter haben können.

Das Urteil liest sich wie

Korrekture­n der Klausur eines unbegabten Jurastuden­ten

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