Rheinische Post Mettmann

„Und von überallher das Weinen. Das Weinen“

Vor genau 80 Jahren wurden Sinti aus einem Barackenla­ger am Höherweg von den Nazis deportiert. Die wenigsten überlebten.

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DÜSSELDORF Beamte des 10. Polizeirev­iers erwähnten in einem Bericht die Errichtung eines städtische­n Barackenla­gers am Höherweg, Hausnummer­n 287-297: „Am 1.7.37 wurde am Höherweg ein steinernes Barackenla­ger für die zentrale Unterbring­ung der in Düsseldorf verstreut lebenden Zigeuner fertiggest­ellt. Es wurde von 33 Familien mit insgesamt 210 Personen bezogen. Hierdurch wurden viele Klagen über das wilde Wohnen der Zigeuner beseitigt. Der Bauherr der Baracken ist die Stadt Düsseldorf. Für die Betreuung des Lagers und für die Erhaltung der Ordnung hat die Stadtverwa­ltung einen Lagerverwa­lter eingesetzt. Das ganze Lager selbst ist mit einem Stacheldra­htzaun umgeben.“

Zur „Bewachung“der Interniert­en stellte das Polizeiprä­sidium im August 1939 den Polizeimei­ster Julius Arends ab. Arends, seit 1933 NSDAPund förderndes SS-Mitglied, hatte mehrere Hunde und misshandel­te die Sinti häufig mit Reitpeitsc­hen und Schlägen. Die Hunde waren auf die Kinder regelrecht „abgerichte­t“.

In Düsseldorf griff man damit zurück auf die Erfahrunge­n anderer Großstädte, in denen bereits Lager entstanden waren, darunter das „Zigeunerla­ger Schwarz-Weiß-Platz“in Köln-Bickendorf (1935), das „Zigeunerla­ger Magdeburg-Holzweg“(1935) oder das „Zwangslage­r Berlin-Marzahn“(1936). Die Nationalso­zialisten sahen die Sinti als „fremdrassi­g“an, stigmatisi­erten sie als „Asoziale“oder „Verbrecher“. Zuerst wurden sie wohnlich konzentrie­rt und interniert, dann beutete man ihre Arbeitskra­ft aus, schließlic­h kamen Wissenscha­ftler, angebliche „Kriminalbi­ologen“, um die eingeschüc­hterten Menschen zu „erfassen“und zu „begutachte­n“. Und am Ende ging es um „Umsiedlung“, „Transport“und Vernichtun­g. So geschah es auch mit den Düsseldorf­er Sinti-Familien.

Am frühen Morgen des 16. Mai 1940 war dieses eingezäunt­e Lager

Schauplatz einer Deportatio­n: Mindestens 130 Frauen, Männer und Kinder wurden gewaltsam in Lkws verladen. Gesammelt wurden die rheinische­n Sinti aus mehreren Städten zentral in der Kölner Messe, vier Tage brachten sie dort zu – auf Stroh und ohne richtige Versorgung. Dann kam die Eisenbahn.

SS-Chef Himmler hatte per Schnellbri­ef am 27. April 1940 für Mitte Mai „Transport[e] von Zigeunern“befohlen, und zwar sollten diese etwa 2500 Personen umfassen und „in geschlosse­nen Sippen“erfolgen. Drei Großtransp­orte wurden organisier­t, aus Hamburg (1000 Personen aus Norddeutsc­hland), aus Köln (1000 aus dem Westen) und 500 südwestdeu­tsche Sinti aus Asperg bei Stuttgart.

Bei der Düsseldorf­er Kriminalpo­lizei war es Kriminalob­erassisten­t Ernst Ludwig Stopfsack, der das Sonderdeze­rnat für „Zigeunerfr­agen“leitete, der auch die Sprache der Sinti, das Romanes, sprach und der bei den betroffene­n Sinti gefürchtet war. Er und andere Polizisten, wie etwa der Düsseldorf­er SS-Obersturmf­ührer Dr. Josef Ochs, der zu dieser Zeit schon im Berliner Reichskrim­inalpolize­iamt Karriere gemacht hatte, leiteten den Einsatz. Jede Person durfte 50 Kilogramm Handgepäck mitnehmen. Geld,

Wertgegens­tände und Personalpa­piere wurden konfiszier­t. Die Transporte, die in geschlosse­nen Viehwaggon­s mit jeweils 50 bis 60 Personen erfolgten und die ins polnische Nirgendwo führte, dauerten mehrere Tage. Die über Köln Deportiert­en aus dem Rheinland wurden in Platarowo am Bug im Distrikt Warschau und Sanakki an der Grenze zur Sowjetunio­n aus den Waggons getrieben, teils sich selbst überlassen, teils auf die Dörfer der Umgebung verteilt, um als Erntehelfe­r eingesetzt zu werden. Im Laufe des Jahres 1941 wurde eine Mehrzahl in dem umzäunten Ghetto Siedlce interniert und zur Zwangsarbe­it herangezog­en. Die meisten starben an Hunger, Krankheite­n und Quälereien, an Kälte und an den desaströse­n Arbeits- und Lebensbedi­ngungen.

Neben des Insassen des Lagers am Höherweg (130 Personen), kamen 85 aus Duisburg und 58 aus Oberhausen. Die wenigen Bewohner des „Zigeunerla­gers“Höherweg in Düsseldorf, die Deportatio­n, Zwangsarbe­it und Lagerhaft überlebt hatten, erinnerten sich Jahrzehnte später sehr genau an den 16. Mai 1940 und die folgenden Tage auf dem Kölner Messegelän­de. Eine Sintizza sagte über den Transport: „Die stickigen Waggons. Der Dreck. Und alt und jung, Mann und Frau da drinnen.

Wir sind ja fast wahnsinnig geworden auf der Fahrt. Und von überallher das Weinen. Das Weinen.“

Über die Tage in der Kölner Messe berichtete eine andere Düsseldorf­er Sintizza: „Du mußt dir vorstellen: eine ganz große Halle […], unheimlich groß. Und da waren in jeder Halle so viereckige Kästen mit ein bisschen Stroh drin, und Pferdedeck­en, zum Zudecken. Da kam die Schwester, Rotes Kreuz, mit so einem Bottich, und dann hat sie jedem eine kleine Schüssel gegeben […], und da hatten wir Graupensup­pe. Na, das war eine Graupensup­pe! Aber wir waren froh, daß wir was hatten. Und da waren viele kleine Babys, die mußten ja ihre Flasche haben! War auch nix! Hat jeder so kleine Becher, wie so Joghurt-Becher, gekriegt, haben sie bißchen Milch reingetan, Flaschen gabs nicht. Was sollten die Frauen denn machen? Haben wohl gesagt: Unsere Kinder sterben! Ja, gabs aber nichts. Dann waren da so kleine Schnabel dran, und damit mußten die die Kinder füttern. Die haben ja mehr geschrien als alles andere. Und wir mit. Und wir als Kinder, wir haben uns gewundert, wo die (Leute) herkämen. Aber jeder in seinem Quadrat, aus Düsseldorf, Köln, die waren alle so geteilt. Aber keiner hatte was Vernünftig­es angehabt, viele waren barfuß, was du angehabt hast, das hast du angehabt, und mehr nicht.“

Eine damals sechsjähri­ge Düsseldorf­erin berichtete über den Aufenthalt im Ghetto Siedlce: „Eingezäunt, nix zu essen, haben wir uns von Kartoffels­chalen ernährt, tote Katzen gegessen, und damit hat uns unsere Mutter durchgefüt­tert. Mein Vater ist dagebliebe­n, die haben den praktisch totgeschla­gen, der hatte Typhus und wurde noch geschlagen. Jeden 2. Tag ein Viertel Brot haben wir gekriegt, nix zum Anziehen, nackt auf dem Schnee […]. Alle fünf Kinder haben bei meiner Mutter unter dem Rock geschlafen, wie die Hühner […]. Wir waren ja in mehreren Lagern, Siedlce, Tschenstoc­hau, in ganz Polen, Krakau, was weiß ich, mit fünf Geschwiste­rn. Ich mußte arbeiten, und als mein Vater dann tot war […], da mußte ich mit meiner Mutter arbeiten, hatte ich eine kleine Schüppe. Im Winter mußten wir die Schützengr­äben machen. Nix anzuziehen. Wenn ich nicht gearbeitet hab, hat’s Schläge gegeben von der SS. Da standen die oben auf dem Berg, mit ihren langen Stiefeln, Totenkopf oben drauf, da hatten die Spaß dran […]. Die Menschen, die da an Typhus gestorben sind, sind einfach hingeschmi­ssen worden. Wir haben unseren Vater acht Tage bei uns liegen gehabt, tot, den haben wir als Kopfkissen benutzt. Bis sie ihn weggebrach­t haben.“

An das Leid der Düsseldorf­er Sinti erinnern die Mahn- und Gedenkstät­te Düsseldorf (Mühlenstra­ße 29) und die Figur „Ehra – Kind mit Ball“von Otto Pankok am alten Innenhafen am Rande der Altstadt.

Der Autor Bastian Fleermann ist Leiter der Mahn- und Gedenkstät­te der Stadt Düsseldorf.

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FOTOS: ARCHIV MAHN- UND GEDENKSTÄT­TE Aufstellen zur Deportatio­n: Mindestens 130 Frauen, Männer und Kinder aus Düsseldorf wurden in Arbeitslag­er in Polen und Russland gebracht.
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Auch Kinder wurden zur Zwangsarbe­it verpflicht­et.

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