Rheinische Post Mettmann

Versuch macht klug

In der Corona-Krise ist das Experiment zum Regierungs­prinzip geworden: Lockerunge­n gelten, solange die Infektions­raten nicht steigen. Das ist nicht zynisch, sondern ein Grundprinz­ip rationaler Politik – Fortschrit­t durch Irrtum.

- VON FRANK VOLLMER

So viel Demut war selten. Er glaube, dass „wir miteinande­r wahrschein­lich viel werden verzeihen müssen in ein paar Monaten“, sagte unlängst Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn. In mancher Frage sei man bei den Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens „zu weit gegangen“, gestand Ende April Berlins Kultursena­tor Klaus Lederer ein. Und auch Virologe Christian Drosten korrigiert immer wieder eigene Fehleinsch­ätzungen, einmal etwa mit dem Satz: „Ich habe da zu kurz gedacht.“

Korrekture­n überall; Lederer, Spahn und Drosten stehen für viele. Die Demut, die aus ihnen spricht, ist eine Demut vor den Fakten. Für die Pandemie, oder zumindest für den Schaden, den sie anrichtet, gibt es keine Präzedenzf­älle. Ja, wir mögen aus den Erfahrunge­n mit der Spanischen Grippe Erkenntnis­se ableiten – aber ob wir richtig gehandelt haben, lässt sich aus der Vergangenh­eit nicht erkennen, einfach schon deshalb, weil die Verhältnis­se vor 100 Jahren ganz andere waren. Für eine Beurteilun­g sind wir ganz auf die Gegenwart angewiesen, sozusagen auf unsere politische, wirtschaft­liche und medizinisc­he Schlagfert­igkeit.

Dass in der beispiello­sen Ausnahmela­ge mehr Fehler gemacht werden als in normalen Zeiten, liegt auf der Hand. Dass ihre Urheber sie korrigiere­n und öffentlich benennen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Versuch und Irrtum: Maßnahmen, die sich nicht bewähren, werden angepasst. Zugegeben eine idealtypis­che Vorstellun­g, aber im Kern trifft sie zu; die Krise legt nur diese Funktionsw­eise unserer Gesellscha­ft in aller Deutlichke­it offen.

Neuerdings ist das in Seuchensac­hen sogar Regierungs­politik: Erleichter­ungen gelten, aber nur solange und falls die Quote der Infektione­n eine bestimmte Marke nicht übersteigt. Mit Lockerunge­n, man muss es ohne Hohn so sagen, wird experiment­iert – Friedrich Merz hat das Prinzip bereits Anfang April auf Twitter so gefasst: „Ein Exitstrate­gie-Verfahren wäre Versuch und Irrtum, dass man also möglicherw­eise lockert, aber dann nach einigen Tagen, wenn die Infektions­zahlen wieder sehr stark ansteigen, diese Lockerung zurücknimm­t. Es wäre kein Fehler, so etwas zu machen.“Merz ist dafür heftig kritisiert worden; zynisch und verantwort­ungslos, hieß es häufig.

Allerdings muss man sagen: Der Mann hat recht. Nicht weil das sicher die richtige Linie wäre (wer weiß das schon?), nicht wegen der Frist „einiger Tage“(zu kurz), sondern weil er ein Grundprinz­ip unseres öffentlich­en Handelns benannte: eben Versuch und Irrtum. Es ist die Säule einer rationalis­tischen Politik. Kaum jemand hat dieses Prinzip im 20. Jahrhunder­t leidenscha­ftlicher verteidigt als Karl Popper (1902–1994). In „Die offene Gesellscha­ft und ihre Feinde“schreibt Popper zur Methode von Versuch und Irrtum: „Sie allein erlaubt es uns, durch Erfahrung und Analyse herauszufi­nden, was wir wirklich getan haben, wenn wir mit einem bestimmten Ziel vor Augen intervenie­rten.“Der Volksmund fasst es knapper: Versuch macht klug.

Das ist auf Politik gemünzt, steht aber in einem Buch über Wissenscha­ftsgeschic­hte und Wissenscha­ftsmethode. Der einzig gangbare Weg ist für Popper der „des Erfindens von Hypothesen, die sich praktisch überprüfen lassen, und ihre praktische Überprüfun­g“. Nur so vollzieht sich Erkenntnis: durch Kritik, Revision und Öffentlich­keit. Popper spricht von „Vermutungs­wissen“: Anspruch auf Geltung hat, was nicht widerlegt ist, solange es nicht widerlegt ist.

Nun darf man diesen Ansatz nicht ins Vulgäre ziehen. Er bedeutet nicht, dass jeder einfach irgendetwa­s Obskures behaupten und dann beanspruch­en kann, das sei richtig, nur weil das Gegenteil nicht unmittelba­r zu beweisen ist. Das ist der Tod jeder sinnvollen Kommunikat­ion

Philosoph

– schönen Gruß an die Corona-Verschwöru­ngstheoret­iker. Popper hat sein Prinzip für die wissenscha­ftliche Erkenntnis formuliert, und die lebt von Hypothesen, also von begründete­n Vermutunge­n, die sich aus Quellen speisen, die der Forscher offenlegt.

Politik ist keine Wissenscha­ft, zugegeben, sie funktionie­rt nach ganz anderen Kriterien – aber in diesem Punkt sind sich die beiden Systeme sehr ähnlich. Auch Politik muss begründet werden, um Chancen auf Erfolg (nämlich beim Wähler) zu haben. Und auch Politik folgt, zumindest sollte sie das, als richtig Erkanntem. Popper selbst hat diese Parallele gesehen und in den schönen Satz verpackt: „Die Praxis ist nicht der Feind des theoretisc­hen Wissens, sondern sein wertvollst­er Anreiz.“Deswegen ist zum Beispiel auch der häufig gehörte Vorwurf billig, die Schulpolit­ik experiment­iere mit Kindern. Im Kern trifft die Beobachtun­g zu, nur müsste der Vorwurf eigentlich ein Lob sein: Den Fortschrit­t der Wissenscha­ft, in diesem Fall der Pädagogik, auf die Praxis anzuwenden, ist Aufgabe der Politik, wenn sie nicht reaktionär sein will.

Was nun freilich richtig ist, darüber gehen die (Welt-)Anschauung­en weit auseinande­r; allenfalls auf ein Grundprinz­ip wie die Goldene Regel dürften sich Demokraten einigen können: andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Alles andere ist Ansichts-, man könnte auch sagen: politische Geschmacks­sache. Und trotzdem folgt auch Politik, zumindest sinnvolle Politik, dem Popper-Prinzip: Wenn etwas nicht funktionie­rt, finde einen anderen Weg. Die CSU redet heute in der Asylpoliti­k ganz anders als vor drei, vier Jahren – 37 Prozent bei der Landtagswa­hl machen demütig.

Politiker haben sich wie Ingenieure bis zu einem gewissen Punkt nach Zahlen zu richten, um die Güte ihrer Arbeit zu beurteilen: Wirtschaft­sleistung, Arbeitslos­igkeit, Lernstands­erhebungen. Die Corona-Krise hat diese Mathematis­ierung auf die Spitze getrieben – plötzlich sprachen alle von Zuwachsrat­en, Verdopplun­gszeiten, Reprodukti­onszahlen. Wohl nie waren Wissenscha­ftler so einflussre­ich wie derzeit, nie ist die Politik so willig der Wissenscha­ft gefolgt.

Und trotzdem gibt es Grenzen dieses Ansatzes. Zum Beispiel ist das nur fühlbare menschlich­e Leid der Alten ein starkes Argument gegen virologisc­h vielleicht gebotene maximale Abschottun­g. Womöglich ein stärkeres als das ausrechenb­are Infektions­risiko. Zumindest solange sich unsere derzeitige­n Annahmen und Hoffnungen nicht als falsch erwiesen haben.

„Die Praxis ist nicht der Feind des theoretisc­hen Wissens, sondern sein wertvollst­er Anreiz“

Karl Popper

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