Die Ausflüge des Herrn Cummings
Der engste Berater des britischen Premierministers wird aus der eigenen Partei zum Rücktritt aufgefordert. Obwohl er mit dem Coronavirus infiziert war, ist er offenbar mehrmals gereist. Aber Boris Johnson hält an ihm fest.
LONDON Britische Medien haben die Jagd auf den Chefberater des Premierministers Boris Johnson eröffnet. Dominic Cummings soll gegen die strengen Auflagen der Selbstisolierung verstoßen haben, als er Ende März zusammen mit seiner ebenfalls an Covid-19 erkrankten Ehefrau von London aus ins rund 400 Kilometer entfernte Durham reiste. Cummings ist zwar nur ein ungewählter politischer Berater, übt aber als einer der engsten Mitarbeiter von Boris Johnson mehr Einfluss aus als mancher Kabinettsminister.
Nach seiner Missachtung der Quarantäneregeln rufen Oppositionspolitiker ebenso wie Journalisten nach Cummings‘ Rücktritt – umso mehr, als am Wochenende bekannt wurde, dass er weitere Male gegen die Lockdown-Regeln der Regierung verstoßen haben soll.
Der Premierminister stellte sich am Sonntag demonstrativ hinter Cummings. Nach einem ausführlichen Gespräch der beiden sei Johnson zu dem Schluss gekommen, dass Cummings „den Instinkten eines jedes Vaters gefolgt“sei. Cummings habe „in jeder Hinsicht verantwortlich, legal und mit Integrität“gehandelt, so der Regierungschef.
Cummings, hieß es zudem, sei zum Hof seines Vaters in der Grafschaft Durham gefahren, um sich dort in einem Nebengebäude mit Frau und Kind zu isolieren und von Familienmitgliedern versorgt zu werden. Sein Verhalten verstoße nicht gegen die Quarantäneregeln.
Cummings’ Kritiker bestreiten das. Die Anweisung der Regierung an die Bevölkerung sei klar gewesen: Wer Symptome hat, muss zu Hause bleiben und darf nicht reisen: „Seinen Wohnsitz zu verlassen, um in einem anderen Haus zu bleiben, ist nicht gestattet.“Es dürfe nicht eine Regel für die Bevölkerung geben und eine andere für hochgestellte Regierungsmitarbeiter.
Der Druck auf Cummings wurde größer, als zwei britische Sonntagszeitungen berichteten, dass der Chefberater auch danach mehrere Male die Ausgangsbeschränkungen verletzt haben soll. Am 12. April sei er in Barnard Castle, einem Ort rund 40 Kilometer von Durham entfernt, gesehen worden, meldete der „Observer“. Und der „Sunday Mirror“
trieb einen Zeugen auf, der den 48-Jährigen beim Ausflugsort Houghall Woods gesehen haben will. Das soll am 19. April gewesen sein, fünf Tage nachdem Cummings aus seiner Selbstisolierung wieder zurück nach London gekommen war. Cummings selbst bestreitet die Vorwürfe.
Am Sonntagmorgen riefen nicht nur Oppositionspolitiker, sondern auch mehrere Mitglieder der konservativen Regierungspartei, darunter der einflussreiche Steve Baker, nach seinem Rücktritt. Im Streit um Cummings geht es aber um mehr als um Corona-Regeln.
Der 48-Jährige ist eine hochumstrittene Figur der britischen Politik. Zwar fungiert Cummings nur als Berater und wurde nie in ein Amt gewählt. Doch Boris Johnson hat ihn zu einem seiner engsten Mitarbeiter gemacht, der in der Downing Street den Beamtenapparat koordinieren und überwachen soll. Cummings hat das Büro gleich neben Johnson, was seinen Status unterstreicht: An ihm kommt keiner vorbei, er ist de facto der Stabschef.
Er hatte sich seine Sporen in der „Vote Leave“-Kampagne verdient, die im Referendum für den Austritt aus der EU stritt. Unter Brexit-Fans hat er fast mythischen Status, weil ihm der Sieg im Referendum zugeschrieben wird. Sogar ein Hollywood-Film porträtierte den genialen Wahlkämpfer (gespielt von Benedict Cumberbatch), der den Slogan „Take back control“erfand.
Für seine Kritiker ist Cummings der Verantwortliche, der mit falschen Behauptungen eine verlogene Kampagne fuhr. Für den Premierminister ist er vor allem der Mann, der ihm zweimal zu Siegen verhalf: Zuerst im EU-Referendum und dann bei der letzten Wahl, die Boris Johnson mit einer Mehrheit von 80 Sitzen gewinnen konnte. Das dürfte erklären, warum Downing Street so beharrlich an Cummings festhält.
(mit dpa)