Denken ohne Geländer
Das Deutsche Historische Museum Berlin zeigt eine Ausstellung über Leben und Werk von Hannah Arendt. Man sieht auch Fotos, die sie mit ihrer kleinen Kamera machte.
BERLIN Es ist ein Höhepunkt der Medienkultur der frühen Bundesrepublik und ein Meilenstein der freien Rede und des kritischen Denkens. Bisher hatte sich der legendäre politische Journalist Günter Gaus in seiner ZDF-Gesprächsreihe „Zur Person“nur politisch mächtige Männer zum Diskurs über aktuelle Probleme und historische Fragen eingeladen. Jetzt, am 28. Oktober 1964, sitzt ihm die einst von den Nazis aus Deutschland vertriebene Philosophin Hannah Arendt gegenüber, die nach ihrer Flucht über Frankreich in die USA gekommen ist und dort eine neue Heimat gefunden hat.
Sie hat ein epochales Werk über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“verfasst, die ideologischen Verirrungen und politischen Verwerfungen von Nationalsozialismus und Stalinismus gnadenlos analysiert, sich bei Linken und Rechten unbeliebt gemacht und besteht darauf, dass es wichtig ist, komplizierte Sachverhalte nicht nur zu beschreiben und zu erklären, sondern – im Sinne von Immanuel Kant – kritisch zu beurteilen. Auch auf die Gefahr hin, falsch zu liegen und später alles noch einmal neu zu überdenken und neu zu beurteilen. Hannah Arendt nennt das: „Denken ohne Geländer“. Und genau das macht sie jetzt in dieser Sternstunde des Fernsehens.
Seitdem Arendt als Reporterin der Zeitschrift „The New Yorker“den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, beobachtet und das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“verfasst hat, sieht sie sich Anfeindungen ausgesetzt: Sie habe das Verhalten der jüdischen Funktionäre bei der Organisation der „Endlösung“falsch dargestellt und die monströsen Verbrechen der Nazis verharmlost. Dabei, und darauf beharrt sie im Gespräch mit Gaus, geht es ihr um das genaue Gegenteil. Gerade in der Banalität eines Mannes, der vom normalen Kleinbürger zum willigen Vollstrecker wird, liegt für Arendt das eigentlich Erschreckende und Verstörende.
Die verstörenden Auskünfte und umstrittenen Erkenntnisse der Philosophin laufen im digitalen Zeitalter nicht nur als Video bei Youtube und werden millionenfach abgerufen. Sie können auch, auf Bildschirmen und in Hör-Stationen, im Deutschen Historischen Museum Berlin begutachtet, diskutiert und beurteilt werden. Denn die Ausstellung über „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“will nicht Leben und Werk der geistreichen Denkerin einfach nur nacherzählen, sondern den Besucher ermuntern, Stellung zu beziehen, sich ein Urteil zu bilden. Präsentiert werden Hunderte Objekte, Bücher, Manuskripte, Notizen, Fotos, die immer aufs Neue bezeugen, dass Arendt sich als Grenzgängerin verstand, die keine Angst hatte, im Widerspruch zur herrschenden Meinung zu stehen.
Sie vertrat nie eine Denkschule und war nie Parteigängerin einer Ideologie. Wenn sie mit ihren Definitionen von „totaler Herrschaft“und der „Banalität des Bösen“ins Fettnäpfchen des politisch-historischen Mainstream trat und überall aneckte, war ihr das gerade recht. Wenn sie, als verfolgte Jüdin, sich kritisch mit dem Zionismus auseinandersetzte, hatte das Gewicht. Mit unzähligen Dokumenten werden die von ihr angezettelten Kontroversen dokumentiert. Natürlich auch ihre kritischen Kommentare zum alltäglichen Rassismus in den USA, dem Land, das sie liebte und dessen Demokratie sie schätzte. Ihre Sicht auf die Studentenbewegung wird erläutert und gezeigt, dass sie die französischen 68er wegen ihrer anarchischen Radikalität schätzte, die deutschen Rebellen aber als viel zu dogmatisch empfand. Mit dem Feminismus, auch das sieht man in der Ausstellung, konnte die Philosophin nie viel anfangen.
Auch das Private kommt zum Vorschein: nicht unerwähnt bleibt, dass sie – als junge Studentin – die Geliebte ihres Professors, Martin Heidegger, war, sich zwar von seiner späteren Nazi-Sympathie distanzierte, mit ihm aber auch nach dem Krieg noch korrespondierte und ihn wiedersah. Arendt hatte, wie Hans Jonas einmal sagte, ein „Genie für Freundschaften“und lud alte Weggefährten und Bekannte immer wieder zu sich ein, wenn sie den Sommer in Tegna (Schweiz) verbrachte.
Bei einem Besuch in München kaufte sie sich 1961 eine kleine „Minox“, die als „Spionage-Kamera“bekannt war, trug sie immer bei sich und fotografierte bei jeder Gelegenheit Freunde, Kollegen, Bekannte. Viele dieser privaten Fotos sind jetzt im Museum zu sehen. Genauso wie einige ihrer Utensilien, ohne die sie selten aus dem Haus ging. Aktentasche, Pelzcape, Zigarettenetui, auch die goldene Brosche mit Brillanten und Perlmutt (die sie auch beim TV-Interview mit Gaus trug).