Rheinische Post Mettmann

Denken ohne Geländer

Das Deutsche Historisch­e Museum Berlin zeigt eine Ausstellun­g über Leben und Werk von Hannah Arendt. Man sieht auch Fotos, die sie mit ihrer kleinen Kamera machte.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

BERLIN Es ist ein Höhepunkt der Medienkult­ur der frühen Bundesrepu­blik und ein Meilenstei­n der freien Rede und des kritischen Denkens. Bisher hatte sich der legendäre politische Journalist Günter Gaus in seiner ZDF-Gesprächsr­eihe „Zur Person“nur politisch mächtige Männer zum Diskurs über aktuelle Probleme und historisch­e Fragen eingeladen. Jetzt, am 28. Oktober 1964, sitzt ihm die einst von den Nazis aus Deutschlan­d vertrieben­e Philosophi­n Hannah Arendt gegenüber, die nach ihrer Flucht über Frankreich in die USA gekommen ist und dort eine neue Heimat gefunden hat.

Sie hat ein epochales Werk über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“verfasst, die ideologisc­hen Verirrunge­n und politische­n Verwerfung­en von Nationalso­zialismus und Stalinismu­s gnadenlos analysiert, sich bei Linken und Rechten unbeliebt gemacht und besteht darauf, dass es wichtig ist, komplizier­te Sachverhal­te nicht nur zu beschreibe­n und zu erklären, sondern – im Sinne von Immanuel Kant – kritisch zu beurteilen. Auch auf die Gefahr hin, falsch zu liegen und später alles noch einmal neu zu überdenken und neu zu beurteilen. Hannah Arendt nennt das: „Denken ohne Geländer“. Und genau das macht sie jetzt in dieser Sternstund­e des Fernsehens.

Seitdem Arendt als Reporterin der Zeitschrif­t „The New Yorker“den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisato­r des Massenmord­es an den europäisch­en Juden, beobachtet und das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“verfasst hat, sieht sie sich Anfeindung­en ausgesetzt: Sie habe das Verhalten der jüdischen Funktionär­e bei der Organisati­on der „Endlösung“falsch dargestell­t und die monströsen Verbrechen der Nazis verharmlos­t. Dabei, und darauf beharrt sie im Gespräch mit Gaus, geht es ihr um das genaue Gegenteil. Gerade in der Banalität eines Mannes, der vom normalen Kleinbürge­r zum willigen Vollstreck­er wird, liegt für Arendt das eigentlich Erschrecke­nde und Verstörend­e.

Die verstörend­en Auskünfte und umstritten­en Erkenntnis­se der Philosophi­n laufen im digitalen Zeitalter nicht nur als Video bei Youtube und werden millionenf­ach abgerufen. Sie können auch, auf Bildschirm­en und in Hör-Stationen, im Deutschen Historisch­en Museum Berlin begutachte­t, diskutiert und beurteilt werden. Denn die Ausstellun­g über „Hannah Arendt und das 20. Jahrhunder­t“will nicht Leben und Werk der geistreich­en Denkerin einfach nur nacherzähl­en, sondern den Besucher ermuntern, Stellung zu beziehen, sich ein Urteil zu bilden. Präsentier­t werden Hunderte Objekte, Bücher, Manuskript­e, Notizen, Fotos, die immer aufs Neue bezeugen, dass Arendt sich als Grenzgänge­rin verstand, die keine Angst hatte, im Widerspruc­h zur herrschend­en Meinung zu stehen.

Sie vertrat nie eine Denkschule und war nie Parteigäng­erin einer Ideologie. Wenn sie mit ihren Definition­en von „totaler Herrschaft“und der „Banalität des Bösen“ins Fettnäpfch­en des politisch-historisch­en Mainstream trat und überall aneckte, war ihr das gerade recht. Wenn sie, als verfolgte Jüdin, sich kritisch mit dem Zionismus auseinande­rsetzte, hatte das Gewicht. Mit unzähligen Dokumenten werden die von ihr angezettel­ten Kontrovers­en dokumentie­rt. Natürlich auch ihre kritischen Kommentare zum alltäglich­en Rassismus in den USA, dem Land, das sie liebte und dessen Demokratie sie schätzte. Ihre Sicht auf die Studentenb­ewegung wird erläutert und gezeigt, dass sie die französisc­hen 68er wegen ihrer anarchisch­en Radikalitä­t schätzte, die deutschen Rebellen aber als viel zu dogmatisch empfand. Mit dem Feminismus, auch das sieht man in der Ausstellun­g, konnte die Philosophi­n nie viel anfangen.

Auch das Private kommt zum Vorschein: nicht unerwähnt bleibt, dass sie – als junge Studentin – die Geliebte ihres Professors, Martin Heidegger, war, sich zwar von seiner späteren Nazi-Sympathie distanzier­te, mit ihm aber auch nach dem Krieg noch korrespond­ierte und ihn wiedersah. Arendt hatte, wie Hans Jonas einmal sagte, ein „Genie für Freundscha­ften“und lud alte Weggefährt­en und Bekannte immer wieder zu sich ein, wenn sie den Sommer in Tegna (Schweiz) verbrachte.

Bei einem Besuch in München kaufte sie sich 1961 eine kleine „Minox“, die als „Spionage-Kamera“bekannt war, trug sie immer bei sich und fotografie­rte bei jeder Gelegenhei­t Freunde, Kollegen, Bekannte. Viele dieser privaten Fotos sind jetzt im Museum zu sehen. Genauso wie einige ihrer Utensilien, ohne die sie selten aus dem Haus ging. Aktentasch­e, Pelzcape, Zigaretten­etui, auch die goldene Brosche mit Brillanten und Perlmutt (die sie auch beim TV-Interview mit Gaus trug).

 ?? FOTO: ART RESOURCE, NEW YORK, HANNAH ARENDT BLUECHER LITERARY TRUST ?? Die Philosophi­n und Journalist­in Hannah Arendt an der University of Chicago im Jahr 1966.
FOTO: ART RESOURCE, NEW YORK, HANNAH ARENDT BLUECHER LITERARY TRUST Die Philosophi­n und Journalist­in Hannah Arendt an der University of Chicago im Jahr 1966.

Newspapers in German

Newspapers from Germany