Rheinische Post Mettmann

377 Verdachtsf­älle – mindestens

- VON JAN DREBES

In den vergangene­n drei Jahren registrier­ten Sicherheit­sbehörden Hunderte rechtsextr­eme Vorfälle in den eigenen Reihen. Bundesinne­nminister Horst Seehofer sieht aber kein strukturel­les Problem. Es gibt energische­n Widerspruc­h.

BERLIN In den Landespoli­zeien, der Bundespoli­zei, in Kriminaläm­tern und beim Verfassung­sschutz: In nahezu allen Sicherheit­sbehörden von Bund und Ländern sind in den vergangene­n Jahren Mitarbeite­r mit rechtsradi­kalem Gedankengu­t aufgefalle­n. Das ist das Ergebnis eines neuen Lageberich­ts, den Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) und Verfassung­sschutz-Chef Thomas Haldenwang am Dienstag in Berlin vorstellte­n. Demnach meldeten die Behörden zwischen Anfang 2017 und dem vergangene­n Frühjahr 377 rechtsextr­eme Verdachtsf­älle aus den eigenen Reihen. In 319 Fällen leiteten die Sicherheit­sbehörden der Länder Ermittlung­en ein, 58 Fälle betrafen Bundesbehö­rden. Noch nicht eingerechn­et: 1064 Verdachtsf­älle beim Militärisc­hen Abschirmdi­enst für den Bereich der Bundeswehr.

Haben die deutschen Sicherheit­sbehörden ein strukturel­les Problem mit Rechtsextr­emismus ihrer Beamten? Seehofer verneint das und verweist als Beleg auf die Zahlen des Lageberich­ts. Dieser zeige, dass über 99 Prozent der Polizeibea­mten „fest auf dem Boden des Grundgeset­zes stehen“, so Seehofer. Es bedeute auch, „dass wir kein strukturel­les Problem mit Rechtsextr­emismus in den Sicherheit­sbehörden von Bund und Ländern haben“. Dennoch sei jeder Fall „eine Schande“.

Haldenwang und der Chef der Bundespoli­zei, Dieter Romann, äußerten sich ähnlich. Seine Behörde werde die einzelnen Fälle nicht isoliert betrachten, sondern wolle aufklären „ob wir vernetzten Rechtsextr­emisten gegenübers­tehen, die ihre Verbindung­en ausbauen“, sagte der Verfassung­sschutz-Präsident. Romann

Eine Gruppe Polizisten bei einem Einsatz in Berlin.

kann nach dem Bericht in seiner Behörde „keine rechtsextr­emen Netzwerke erkennen“.

Wie die Verteilung in den Ländern tatsächlic­h aussieht, kann der Bericht nicht abbilden. Schließlic­h sagt die Zahl der entdeckten Fälle womöglich nur etwas darüber aus, wie genau die Behörden im jeweiligen Land hinschauen. Der Skandal um rechtsextr­eme Drohmails in Hessen etwa könnte dazu geführt haben, dass dort die Polizei zuletzt besonders sensibel mit Anzeichen in den eigenen Reihen umging.

Dem Bericht zufolge gab es die

meisten rechtsextr­emen Fälle in Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Unter den 25.000 Beschäftig­ten der Berliner Sicherheit­sbehörden tauchten 53 rechtsextr­eme Verdachtsf­älle auf, in Hessen waren es 59. In Thüringen, wo bei den Sicherheit­sbehörden des Landes rund 7200 Menschen beschäftig­t sind, wurden im gleichen Zeitraum fünf Verdachtsf­älle untersucht.

Zugleich schien in den meisten Fällen kein Kontakt zu rechtsextr­emistische­n Organisati­onen zu bestehen. Das konnten die Behörden nur zwei Mal nachweisen. In den anderen Fällen ging es vielmehr um radikale Äußerungen oder die Nutzung entspreche­nder Symbole, Parolen oder Bilder in Chats oder sozialen Medien. Von den Verfahren in den Landesbehö­rden wurden den Angaben zufolge 21 Prozent eingestell­t, zum Beispiel weil ein vorgeworfe­nes Vergehen nicht eindeutig nachgewies­en werden konnte. Bei den Bundesbehö­rden kam dies in elf Prozent der Verfahren vor.

Kritik an dem Bericht kam aus NRW. Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) sagte, die Zahlen seien nicht mehr aktuell. Bundesinne­nminister

Horst Seehofer habe für sein am Dienstag vorgestell­tes Lagebild Zahlen bis zum 31. März verwendet. Damals habe man rund 45 Verdachtsf­älle nach Berlin gemeldet, inzwischen seien es 104. Stand Dienstag seien zudem 37 weitere Hinweise aus den Reihen der Polizei eingegange­n, sagte Reul. Diese müssten nun geprüft werden.

In den vergangene­n Wochen war Seehofer wiederholt dafür kritisiert worden, dass er eine Untersuchu­ng zu Rassismus in der Polizei ablehnt. Grünen-Chef Robert Habeck forderte eine gründliche Analyse. Er sagte unserer Redaktion: Eine rein statistisc­he Erfassung könne eine gründliche wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng nicht ersetzen. „Eine Studie muss ergänzt werden durch die Einrichtun­g eines wirklich unabhängig­en, also außerhalb der polizeilic­hen Strukturen angesiedel­ten, Polizeibea­uftragten“, sagte Habeck. „An diesen sollen sich Polizistin­nen und Polizisten wie auch Bürgerinne­n und Bürger wenden können, so dass Fehlentwic­klungen und Defizite frühzeitig erkannt werden.“

Auch SPD-Chefin Saskia Esken forderte mehr Prävention­sarbeit. „Mit menschenfe­indlichen Stereotype­n im Kopf ist man kein guter Ermittler“, sagte Esken auf Anfrage. Das hätten die erschütter­nden Untersuchu­ngen der NSU-Morde gezeigt. „Deshalb brauchen wir mehr Supervisio­n, wir brauchen mehr Prävention­sprogramme, wir brauchen Ombudsstel­len innerhalb des öffentlich­en Dienstes zum Beispiel bei Polizei und Militär und sensibilis­ierte Führungskr­äfte, die rechtsextr­emistische Tendenzen rechtzeiti­g erkennen.“Mit Blick darauf sei die Pressekonf­erenz von Horst Seehofer ein Nullsummen­spiel gewesen, kritisiert­e Esken. (mit dpa)

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FOTO: SIMONE KUHLMEY / IMAGO IMAGES

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