Das laute Schweigen der Industriekapitäne
Auf dem Tag der Industrie wird deutlich, dass die Industrievertreter und Kanzlerin Merkel nicht mehr Freunde werden.
BERLIN Die Szene ist mehr als eine Randnotiz: Nach seiner Rede fragt die Moderatorin Industriepräsident Dieter Kempf, was er über Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagen kann, die in einem Jahr von der politischen Bühne treten wird. Kempf hat mit der Frage zu kämpfen an diesem Tag der deutschen Industrie in Berlin, dem letzten in Merkels 16-jähriger Amtszeit.
Doch Kempf nimmt ihren Namen nicht in den Mund, sagt nur, dass auch Helmut Kohl lange im Amt gewesen sei, genauso wie er selbst, der 20 Jahre lang ein Unternehmen geleitet habe. Als die Moderatorin zu Merkel noch einmal nachhakt, sagt der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) nur: Wer in der Verantwortung stehe, müsse für eine gute Zukunft sorgen. Und: „Das Leben geht weiter.“
Aber das Leben folgt anderen Regeln. In der Corona-Krise, neben der Finanzkrise vor zwölf Jahren die tiefste in der Nachkriegszeit, waren beide Seiten notgedrungen eng zusammengerückt, die Industrie und die Politik, die Wirtschaftsverbände und die Bundesregierung. Unter Merkels Regie machte die Regierung Milliarden locker, um Konjunktur und Unternehmen zu stützen. Und doch ist das Verhältnis zwischen Merkel und der Industrie kühl und distanziert geblieben.
Und so ist es geblieben: Die Kanzlerin kann diesmal coronabedingt nicht persönlich anwesend sein.
Merkel schickt eine dürre Videobotschaft aus dem Kanzleramt, nicht einmal zwei Minuten nimmt sie sich Zeit dafür. Die Industrie habe in der Krise mit „gewaltigen Herausforderungen“zu kämpfen, sagt die Kanzlerin. Doch bei der Krisenbewältigung „arbeiten wir konstruktiv zusammen“.
Merkels Kanzlerschaft ist auch die Geschichte einer Entfremdung. Als sie 2005 ins Amt kam, hatte sie sich noch um ein gutes Verhältnis zur Wirtschaft bemüht. Legendär sind Erzählungen von Topmanagern, die sie anfangs unterschätzt hatten, nach einem Besuch im Kanzleramt aber berichteten, die Frau sei gar nicht spröde, sondern witzig und charmant, könne zuhören.
Doch dann kam 2008 die Finanzkrise, und Merkel musste erfahren, dass auch deutsche Banken bei zweifelhaften, mitunter kriminellen Geschäften mitgemischt hatten. Merkel war persönlich enttäuscht etwa vom damaligen Deutsche-BankChef Josef Ackermann. Nie wieder wolle sie selbstherrliche Bankmanager mit Steuergeld herauspauken.
Doch was folgte, war keine Versöhnung, sondern ein Zerwürfnis mit der Autoindustrie. Im Diesel-Skandal musste Merkel feststellen, dass ihr jene Automanager, denen sie in der Finanzkrise die Abwrackprämie und das Kurzarbeitergeld organisiert hatte, nicht die Wahrheit gesagt haben: Jahrelang waren die Abgaswerte von Dieselmotoren manipuliert und verschleiert worden. Die Salamitaktik der Autokonzerne beim Eingestehen dieser Wahrheit tat ihr Übriges. Sie wolle die Stunden nicht zählen, sagte sie auf dem Tag der Industrie 2019, die sie damit verbracht habe, die Schäden aufzuräumen, die die Automanager angerichtet hätten.
Umgekehrt war die Industrie enttäuscht von der Kanzlerin, weil sie um strukturelle Reformen stets einen Riesenbogen gemacht hat. Merkel bescherte der Industrie stattdessen die Energiewende, überrumpelte sie 2011 nach der Fukushima-Katastrophe mit dem rasanten Atomausstieg. 2015 kam der ungeliebte Mindestlohn, 2020 die ungewollte Grundrente. Die Industrie sah in Merkel eher eine Sozialdemokratin mit CDU-Parteibuch.
Doch jetzt will BDI-Präsident Kempf in die nahe Zukunft schauen. Ausgerechnet in der Corona-Krise komme die große Koalition auf die Idee, die Unternehmen mit einem Lieferkettengesetz, einem Unternehmensstrafrecht und einem Recht auf Homeoffice zu drangsalieren, kritisiert der BDI-Präsident. „Das sind Irrwege!“, ruft Kempf in Berlin den maskentragenden Managern zu. Wer die Leistungsfähigkeit der Industrie zusätzlich schwäche, schädige „die Mittelschicht, die dieses Land trägt“. „Deutschland braucht neuen Realismus in der Wirtschafts- und Industriepolitik“, schließt er seine Rede.
Wenige Minuten später wird im Gespräch mit der Moderatorin klar, dass er sich diesen Realismus von Angela Merkel nicht mehr erwartet.