EuGH erleichtert Zuzug nach Deutschland
Ein arbeitsloser Pole aus Krefeld, dessen Töchter zur Schule gehen, hat Anspruch auf Hartz IV. Insgesamt aber entlasten Migranten das deutsche Sozialsystem eher.
LUXEMBURG/BERLIN EU-Bürger, deren Kinder in Deutschland zur Schule gehen, haben Anspruch auf Hartz-IV-Sozialleistungen, wenn sie arbeitslos geworden sind. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden. Eine Ausnahmeklausel greife nicht, falls die Kinder eine Schule besuchen. Die Klausel besagt, dass EU-Ausländer, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, keinen Anspruch auf Grundsicherung haben.
Mit dieser Ausnahmeklausel will der Gesetzgeber verhindern, dass Bürger aus ärmeren EU-Ländern allein mit der Absicht nach Deutschland ziehen, hier höhere Sozialleistungen
zu erhalten. In einem anderen Fall hatten die Luxemburger Richter diese Rechtslage 2015 bestätigt. Damals spielte jedoch ein Schulbesuch der Kinder von arbeitslosen EU-Bürgern keine Rolle.
Nach dem aktuellen Urteil (Az.: C-181/19) können ein Vater aus Polen und seine beiden Töchter Grundsicherung beantragen, die ihnen das Jobcenter Krefeld zuvor verwehrt hatte. Der Pole wohnt seit 2013 mit seinen Kindern in Deutschland. Er war mehrfach sozialversicherungspflichtig beschäftigt, wurde aber wieder arbeitslos. Zuletzt erhielt die Familie bis 2017 Hartz IV. Den Verlängerungsantrag lehnte das Jobcenter mit der Begründung ab, der Antragsteller halte sich zur Arbeitssuche in Deutschland auf und habe deshalb keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld II.
Dagegen hatte der Vater geklagt. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen kam zu dem Ergebnis, der Ausschluss des Mannes und seiner Töchter von Hartz IV verstoße gegen EU-Recht. Es legte den Streit dem EuGH vor.
Dieser entschied nun zugunsten des Polen. Zwar halte er sich auch zur Arbeitssuche in Deutschland auf, ein Leistungsausschluss greife hier aber nicht. Denn sein Aufenthaltsrecht leite sich inzwischen auch vom Schulbesuch seiner Töchter ab. Aus diesem Aufenthaltsrecht erwachse ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit Deutschen bei der sozialen Sicherung.
Mit dieser Rechtsprechung erleichtert der EuGH den Umzug von Familien aus beruflichen Gründen in der EU. Es werde verhindert, dass eine solche Familie „dem Risiko ausgesetzt ist, bei Verlust ihrer Beschäftigung den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen“, betonten die Richter.
Experten erwarten keine weitreichenden Auswirkungen. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Urteil spürbare Veränderungen von Migrationsströmen auslöst. Der Grundsatz, dass niemand während der Arbeitssuche in Deutschland Transferleistungen wie Hartz IV beziehen kann, wird beibehalten“, sagt Herbert Brücker, Experte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass Migranten aus der EU gegenwärtig mehr in die Sozialsysteme einbezahlen, als sie herausbekommen.“Ihre Beschäftigungsquoten seien nicht sehr viel niedriger als in der deutschen Bevölkerung, aber sehr viel mehr seien im erwerbsfähigen Alter. Das entlaste die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.
Auch Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft zeigte sich nicht beunruhigt. „Die Personenfreizügigkeit in der EU ließe sich mit einem vollständig offenen Sozialsystem nicht vereinbaren. Aber es gibt bisher ausreichende Grenzen für die Einwanderung in unser Sozialsystem“, sagte er. „Die überwiegende Zahl der EU-Bürger kommt, um hier zu arbeiten, nicht, um Sozialleistungen zu beziehen.“
Das Urteil sei „eine Ohrfeige für die Bundesregierung“, sagte der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Wolfgang Strengmann-Kuhn. „EU-Bürger sowie deren Angehörige, die in Deutschland leben, arbeiten, Arbeit suchen, zur Schule gehen oder in Ausbildung sind, dürfen nicht leichtfertig oder gar pauschal von Sozialleistungen ausgeschlossen werden.“Der FDP-Sozialpolitiker Pascal Kober sah das Problem anderswo: „Die Lösung liegt nicht darin, den Sozialleistungsbezug gegen Kindeswohl auszuspielen, sondern darin, dass die Wiederaufnahme einer Arbeit nicht gelungen ist.“Das Hartz-IV-System müsse reformiert werden.