Rheinische Post Mettmann

Ludwig Erhard, der Corona-Manager

Der Klassiker „Wohlstand für alle“des ersten Bundeswirt­schaftsmin­isters ist neu aufgelegt worden. Das Buch, 1957 erstmals erschienen, lässt sich auch als Ratgeber in der heutigen Pandemie lesen.

- VON ANTJE HÖNING

DÜSSELDORF An der Verpackung hat sich nichts geändert. Der Schutzumsc­hlag, in den die Neuauflage von Erhards Klassiker gewickelt ist, erinnert an Leuchtrekl­ame und Nierentisc­h: „Wohlstand für alle“prangt in stilisiert­er Schreibsch­rift auf dem Buchdeckel. Auch der Inhalt ist gleich: Der Econ-Verlag hat das Buch im Wortlaut der letzten von Ludwig Erhard autorisier­ten Fassung herausgege­ben. Und doch lässt es sich als Ratgeber in der Corona-Krise lesen.

Das Buch kam erstmals 1957 heraus. Darin beschrieb der damalige Bundeswirt­schaftsmin­ister, was die soziale Marktwirts­chaft leisten kann und was sie gefährdet. Sein Kernsatz: „Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichn­et das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.“

Davon ist aktuell nicht viel zu spüren. Ordnungspo­litiker wirken so antiquiert wie Erhards Zigarren. Erhard dachte dem Staat die Rolle des Schiedsric­hters zu, der Kartelle verhindern und Regeln setzen, sich aber ansonsten raushalten soll: „Wie beim Fußballspi­el der Schiedsric­hter nicht mitspielen darf, hat auch der Staat nicht mitzuspiel­en.“

Derzeit sieht es anders aus: Der Staat hat milliarden­schwere Rettungspa­kete aufgelegt, mit denen er angeschlag­ene Unternehme­n rettet. Bei der Lufthansa ist er eingestieg­en, mit anderen Unternehme­n verhandelt er. Unvorstell­bar wäre es für Erhard gewesen, eine nationale Industries­trategie vorzulegen, in der der Staat europäisch­e Industrie-Champions erhalten soll, wie sein Nachfolger Peter Altmaier es plant. Der ließ im Ministeriu­m einen Ludwig-Erhard-Saal einweihen, doch seine Politik hat mit Erhard nichts zu tun. Auch Altmaiers Plan, der Stahlindus­trie den grünen Umbau zu bezahlen, wäre mit Erhard nicht zu machen gewesen. „Eine freiheitli­che Wirtschaft­sordnung kann auf Dauer nur bestehen, wenn ein Höchstmaß an privater Initiative gewährleis­tet ist.“

Eine Aussetzung der Insolvenza­ntragspfli­cht? Niemals. Eigentlich müssen Firmen, die nicht mehr zahlungsfä­hig oder verschulde­t sind, einen Insolvenza­ntrag stellen. Erst wurde die Frist ausgesetzt und nun für den Fall der Überschuld­ung bis Jahresende verlängert. Damit aber wird der Wettbewerb ausgehebel­t, zu dem es gehört, dass Firmen untergehen. „Die Grundlage aller Marktwirts­chaft bleibt die Freiheit des Wettbewerb­s“, schreibt Erhard.

Nun hat er keinen Shutdown erlebt. Aber wie die christlich­e sollte auch die ökonomisch­e Bibel nicht wortwörtli­ch genommen werden. Erhard hätte vielleicht einer Beteiligun­g bei der Lufthansa zugestimmt. Doch er hätte darauf bestanden, dass das Ausstiegss­zenario gleich mitgeliefe­rt wird. Dass der Staat seit zehn Jahren Großaktion­är der Commerzban­k ist, wäre ihm ein Graus. „In einer Fußball-Elf ist es auch nicht üblich, dass sich alle elf Mann ins Tor stellen. Von Stürmern verlangen wir, daß sie stürmen“, schreibt

Erhard, der Fußball-Bilder liebte, über die Rolle von Unternehme­n.

Was hätte Erhard dazu gesagt, dass sich der deutsche Staat wegen der Corona-Rezession massiv verschulde­t? „Die gewaltsame Erfüllung von Wünschen führt uns sehr schnell in eine verderblic­he inflationi­stische Entwicklun­g“, mahnte er 1957. Anders als damals haben wir jedoch heute Nullzinsen, und der Staat kann sich viel leichter Kredite beschaffen. Erhard würde schuldenfi­nanzierte Staatsausg­aben wohl nicht dogmatisch ablehnen.

Er würde aber darauf achten, wofür der Staat sein Geld ausgibt, für gute Investitio­nen oder unprodukti­ven Konsum. „Das Kardinalpr­oblem der Wirtschaft­spolitik besteht darin, den Aufschwung frei von inflationi­stischen Tendenzen zu halten.“

Dass die umstritten­e Grundrente trotz Corona-Krise 2021 kommt, hätte es unter Erhard nicht gegeben. Ausdauernd führte er den Kampf gegen einen üppigen Sozialstaa­t: „Der staatliche Zwangsschu­tz muss dort haltmachen, wo der Einzelne und seine Familie in der Lage sind, selbstvera­ntwortlich und individuel­l Vorsorge zu treffen“, lautet ein Satz. Allerdings klafften auch schon bei Erhard Theorie und Praxis auseinande­r. Seinen Kampf gegen eine Dynamisier­ung der gesetzlich­en Rente verlor er gegen seinen Kanzler Konrad Adenauer.

„Gewaltsame Erfüllung von Wünschen führt in eine verderblic­he Entwicklun­g“

Ludwig Erhard

1957 in „Wohlstand für alle“

Abgelehnt hätte Erhard die Vier-Tage-Woche, die die IG Metall gerade im Kampf gegen die drohenden Entlassuns­gwellen in der Autoindust­rie fordert. „Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Wohlstande­s“, so Erhards Credo. Statt Arbeitsplä­tze künstlich zu erhalten, müsse es darum gehen, wettbewerb­sfähige zu schaffen. Und auch dabei kann der Staat nur Schiedsric­hter sein. „Mit bloßer Beschäftig­ung wäre dem deutschen Volke nicht gedient, es käme darauf an, rationelle Arbeitsplä­tze zu schaffen.“

Lernen kann man auch von Erhards Optimismus: Der Phönix werde wieder aus der Asche steigen, wenn man auf die Freiheit setze, auch im Außenhande­l, schreibt er. Deglobalis­ierung als Ausweg aus der Corona-Krise, wie manche fordern? Das hätte Erhard abgelehnt. Globalisie­rungs-Kritik hieß bei ihm „Schreberga­rten-Ideologie“. Seine Forderung: Der Protektion­ismus müsse überwunden, mit der Schreberga­rten-Ideologie schnell und gründlich aufgeräumt werden.

Zugegeben: Das pure Lesevergnü­gen ist das Buch nicht. In den 16 Kapiteln geht es auch viel um Zahlenkolo­nnen und politische Schlachten beim Aufbau der Bundesrepu­blik. Erhard selbst verstand sein Buch als „gutes Rüstzeug in den Auseinande­rsetzungen unserer Zeit“. Die Funktion hat es bis heute.

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FOTO: DPA Ludwig Erhard an seinem Schreibtis­ch im Palais Schaumburg in Bonn, undatierte­s Foto.

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