Altes Denken
Vor sieben Jahren nannte die Kanzlerin das Internet „Neuland“. Damals wurde gelacht. Doch Staat und Gesellschaft sind immer noch nicht darin angekommen. Das hat Corona auf drastische Weise offengelegt.
Corona hat der Digitalisierung in Deutschland einen riesigen Schub gegeben. Als Schulen und Behörden über Wochen dichtmachten, entdeckte eine ganze Nation, was man inzwischen alles schon über das Internet abwickeln kann. Meetings per Laptop, Unterricht per Rechner, Arbeit aus dem Homeoffice. Doch Corona hat zugleich gezeigt, dass Deutschland insgesamt noch nicht im Digitalzeitalter lebt. Immer noch ist das Internet mentales Neuland.
Angela Merkel war für diese Feststellung verhöhnt und belacht worden. Mittlerweile ist es sieben Jahre her, seit sie den legendären Satz sagte: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“Sie meinte damit unter anderem die Probleme, rechtliche Regelungen vom analogen in den virtuellen Raum zu übertragen. Damit tut sich der Gesetzgeber immer noch schwer. Und die Corona-Krise hat erneut den Nachweis erbracht, wie aktuell Merkels Qualifizierung geblieben ist.
Das zeigt sich besonders in der Abwicklung jener Vorgaben, mit denen Infektionsketten nachverfolgt werden sollen. Täglich werden Millionen von Zetteln ausgefüllt, auf denen Besucher von Imbissen, Bars und Gaststätten notieren, an welchem Tag sie um welche Uhrzeit mit wem an welchem Tisch gesessen haben. Oft wird ihnen dazu der Stift in die Hand gedrückt, den zuvor schon Dutzende andere angefasst hatten. Von dieser zusätzlichen Infektionsquelle abgesehen, macht es diese Art der Datenbevorratung den Behörden immens schwer, wenn nicht unmöglich, im Falle eines Falles tatsächlich in der nötigen Geschwindigkeit Infektionsabläufe nachzuvollziehen.
Dabei zeigen einige wenige Restaurants, wie es auch ginge, wenn für Deutschland die Bewältigung neuer Herausforderungen mit modernen Möglichkeiten nicht Neuland wäre: Die Gäste werden gebeten, ihr Smartphone
auf einen QR-Code zu richten. Sofort öffnet sich eine Seite, auf der Name, Uhrzeit, Ort und Kontaktdaten eingegeben und im Bedarfsfall auf Knopfdruck verfügbar sind. Kein mühsames Suchen durch Berge von Zetteln. Schnell, kontaktlos, effizient. So könnte es gehen. Aber in viel zu vielen Fällen tickt Deutschland immer noch anders.
Eklatant war dies besonders in den ersten Monaten bei der Kommunikation über Covid-19-Erkrankungen. Anfangs gab das Robert-Koch-Institut die Zahlen, wie seit Jahrzehnten üblich, per Hand in die Überblickslisten ein. Erst als die Entwicklung die Gewohnheiten buchstäblich überrollte, stellte die Infektionen-Datensammelstelle auf automatisierte Verfahren um. Doch weiterhin gab es Lücken und Pannen, die etwa darauf zurückzuführen waren, dass die großen Labore ihre Befunde üblicherweise per Fax versandten. Bei der Automatisierung dieses Prozesses kamen dann die nun gemailten Faxe mit derselben Kennung an. Das führte dazu, dass wieder händisch für jede Erkrankung nachgearbeitet werden musste.
„Faxmitteilungen zu mailen, ist keine Digitalisierung“, sagt der CDU-Politiker Thomas Heilmann. Er hat mit Kollegen ein Projekt „Neustaat“gestartet, um den radikalen Reformbedarf in Deutschland aufzuzeigen und Lösungen voranzutreiben. Als Justizsenator in Berlin hat er selbst erlebt, wie die Techniken des 19. Jahrhunderts auf die Verwaltung des 21. Jahrhunderts durchschlagen. Der gesamte deutsche Verwaltungsprozess orientiere sich immer noch an den analogen Abläufen. Es gebe eine führende Akte, die elektronisch durch die Abteilungen geschickt werde, wie früher auf Papier. „Das ist kein digitaler Prozess, in dem viele gleichzeitig zu einem schnellen Ergebnis beitragen“, lautet Heilmanns Befund.
Er macht auch für andere Felder deutlich, dass Deutschland in großen Teilen die Digitalisierung nicht einmal verstanden hat. „Die Übertragung von Schulunterricht
CDU-Reformexperte
per Video ist kein digitales Lernen“, stellt Heilmann fest. In einer digitalisierten Schule müsse es nämlich auch um neue Lerninhalte, interaktive und personalisierte Lernprogramme gehen. Das Gewinnen qualifizierter Kräfte läuft in der Bundesregierung ebenfalls noch alles andere als optimal, auch wenn die Unterlagen nun digitalisiert eingereicht werden können. Denn weiterhin müssen sich fähige Leute für einzelne ausgeschriebene Stellen in einem bestimmten Ministerium bewerben. Nach erfolglosem Versuch reichen sie dann die Unterlagen für eine andere Stelle in einem anderen Ressort neu ein. „Eine digitalisierte Regierung würde die Bewerbung ein einziges Mal entgegennehmen und schauen, ob sie die Fähigkeiten dieses Mannes oder dieser Frau in irgendeinem Ministerium oder irgendeiner untergeordneten Behörde gut gebrauchen kann“, so Heilmann.
Künstliche Intelligenz (KI) könnte den Menschen eines Tages helfen, über den Einsatz selbst lernender Algorithmen die Datenflut zu neuen Pandemie-Entwicklungen nicht nur zu sichten, sondern auch zu Vorhersagen zu kommen: Worauf sollte besonders geachtet werden? Wo droht die nächste Gefahr? Wie ist die beste Reaktion darauf? Doch von derart praktischem Nutzen der KI ist Deutschland weit entfernt.
Doch es geht voran. Das Wohngeldverfahren ist digitalisiert, auch der Notfall-Kinderzuschlag funktioniert bereits. Immer wieder aber müssen Bürger zu einem Amt laufen, Unterlagen beantragen und abholen, um diese dann zu einem anderen Amt zu bringen. 575 Verwaltungsleistungen befinden sich in der Digitalisierung. Doch weil das alles seit Jahren schleppend verläuft, hat Innenminister Horst Seehofer die Expertise seines Hauses im Mai in einer eigenen Abteilung „Digitale Verwaltung“gebündelt. Zügig brachte die Regierung die Modernisierung von Melde- und Registerwesen auf den Weg. Die nächsten Corona-Wellen und die administrativen Reaktionen werden indes zeigen, ob das nur auf dem sprichwörtlichen Papier steht oder schon in den Köpfen angekommen ist.
„Faxmitteilungen zu mailen, ist keine Digitalisierung“
Thomas Heilmann