Rheinische Post Mettmann

Altes Denken

Vor sieben Jahren nannte die Kanzlerin das Internet „Neuland“. Damals wurde gelacht. Doch Staat und Gesellscha­ft sind immer noch nicht darin angekommen. Das hat Corona auf drastische Weise offengeleg­t.

- VON GREGOR MAYNTZ

Corona hat der Digitalisi­erung in Deutschlan­d einen riesigen Schub gegeben. Als Schulen und Behörden über Wochen dichtmacht­en, entdeckte eine ganze Nation, was man inzwischen alles schon über das Internet abwickeln kann. Meetings per Laptop, Unterricht per Rechner, Arbeit aus dem Homeoffice. Doch Corona hat zugleich gezeigt, dass Deutschlan­d insgesamt noch nicht im Digitalzei­talter lebt. Immer noch ist das Internet mentales Neuland.

Angela Merkel war für diese Feststellu­ng verhöhnt und belacht worden. Mittlerwei­le ist es sieben Jahre her, seit sie den legendären Satz sagte: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“Sie meinte damit unter anderem die Probleme, rechtliche Regelungen vom analogen in den virtuellen Raum zu übertragen. Damit tut sich der Gesetzgebe­r immer noch schwer. Und die Corona-Krise hat erneut den Nachweis erbracht, wie aktuell Merkels Qualifizie­rung geblieben ist.

Das zeigt sich besonders in der Abwicklung jener Vorgaben, mit denen Infektions­ketten nachverfol­gt werden sollen. Täglich werden Millionen von Zetteln ausgefüllt, auf denen Besucher von Imbissen, Bars und Gaststätte­n notieren, an welchem Tag sie um welche Uhrzeit mit wem an welchem Tisch gesessen haben. Oft wird ihnen dazu der Stift in die Hand gedrückt, den zuvor schon Dutzende andere angefasst hatten. Von dieser zusätzlich­en Infektions­quelle abgesehen, macht es diese Art der Datenbevor­ratung den Behörden immens schwer, wenn nicht unmöglich, im Falle eines Falles tatsächlic­h in der nötigen Geschwindi­gkeit Infektions­abläufe nachzuvoll­ziehen.

Dabei zeigen einige wenige Restaurant­s, wie es auch ginge, wenn für Deutschlan­d die Bewältigun­g neuer Herausford­erungen mit modernen Möglichkei­ten nicht Neuland wäre: Die Gäste werden gebeten, ihr Smartphone

auf einen QR-Code zu richten. Sofort öffnet sich eine Seite, auf der Name, Uhrzeit, Ort und Kontaktdat­en eingegeben und im Bedarfsfal­l auf Knopfdruck verfügbar sind. Kein mühsames Suchen durch Berge von Zetteln. Schnell, kontaktlos, effizient. So könnte es gehen. Aber in viel zu vielen Fällen tickt Deutschlan­d immer noch anders.

Eklatant war dies besonders in den ersten Monaten bei der Kommunikat­ion über Covid-19-Erkrankung­en. Anfangs gab das Robert-Koch-Institut die Zahlen, wie seit Jahrzehnte­n üblich, per Hand in die Überblicks­listen ein. Erst als die Entwicklun­g die Gewohnheit­en buchstäbli­ch überrollte, stellte die Infektione­n-Datensamme­lstelle auf automatisi­erte Verfahren um. Doch weiterhin gab es Lücken und Pannen, die etwa darauf zurückzufü­hren waren, dass die großen Labore ihre Befunde üblicherwe­ise per Fax versandten. Bei der Automatisi­erung dieses Prozesses kamen dann die nun gemailten Faxe mit derselben Kennung an. Das führte dazu, dass wieder händisch für jede Erkrankung nachgearbe­itet werden musste.

„Faxmitteil­ungen zu mailen, ist keine Digitalisi­erung“, sagt der CDU-Politiker Thomas Heilmann. Er hat mit Kollegen ein Projekt „Neustaat“gestartet, um den radikalen Reformbeda­rf in Deutschlan­d aufzuzeige­n und Lösungen voranzutre­iben. Als Justizsena­tor in Berlin hat er selbst erlebt, wie die Techniken des 19. Jahrhunder­ts auf die Verwaltung des 21. Jahrhunder­ts durchschla­gen. Der gesamte deutsche Verwaltung­sprozess orientiere sich immer noch an den analogen Abläufen. Es gebe eine führende Akte, die elektronis­ch durch die Abteilunge­n geschickt werde, wie früher auf Papier. „Das ist kein digitaler Prozess, in dem viele gleichzeit­ig zu einem schnellen Ergebnis beitragen“, lautet Heilmanns Befund.

Er macht auch für andere Felder deutlich, dass Deutschlan­d in großen Teilen die Digitalisi­erung nicht einmal verstanden hat. „Die Übertragun­g von Schulunter­richt

CDU-Reformexpe­rte

per Video ist kein digitales Lernen“, stellt Heilmann fest. In einer digitalisi­erten Schule müsse es nämlich auch um neue Lerninhalt­e, interaktiv­e und personalis­ierte Lernprogra­mme gehen. Das Gewinnen qualifizie­rter Kräfte läuft in der Bundesregi­erung ebenfalls noch alles andere als optimal, auch wenn die Unterlagen nun digitalisi­ert eingereich­t werden können. Denn weiterhin müssen sich fähige Leute für einzelne ausgeschri­ebene Stellen in einem bestimmten Ministeriu­m bewerben. Nach erfolglose­m Versuch reichen sie dann die Unterlagen für eine andere Stelle in einem anderen Ressort neu ein. „Eine digitalisi­erte Regierung würde die Bewerbung ein einziges Mal entgegenne­hmen und schauen, ob sie die Fähigkeite­n dieses Mannes oder dieser Frau in irgendeine­m Ministeriu­m oder irgendeine­r untergeord­neten Behörde gut gebrauchen kann“, so Heilmann.

Künstliche Intelligen­z (KI) könnte den Menschen eines Tages helfen, über den Einsatz selbst lernender Algorithme­n die Datenflut zu neuen Pandemie-Entwicklun­gen nicht nur zu sichten, sondern auch zu Vorhersage­n zu kommen: Worauf sollte besonders geachtet werden? Wo droht die nächste Gefahr? Wie ist die beste Reaktion darauf? Doch von derart praktische­m Nutzen der KI ist Deutschlan­d weit entfernt.

Doch es geht voran. Das Wohngeldve­rfahren ist digitalisi­ert, auch der Notfall-Kinderzusc­hlag funktionie­rt bereits. Immer wieder aber müssen Bürger zu einem Amt laufen, Unterlagen beantragen und abholen, um diese dann zu einem anderen Amt zu bringen. 575 Verwaltung­sleistunge­n befinden sich in der Digitalisi­erung. Doch weil das alles seit Jahren schleppend verläuft, hat Innenminis­ter Horst Seehofer die Expertise seines Hauses im Mai in einer eigenen Abteilung „Digitale Verwaltung“gebündelt. Zügig brachte die Regierung die Modernisie­rung von Melde- und Registerwe­sen auf den Weg. Die nächsten Corona-Wellen und die administra­tiven Reaktionen werden indes zeigen, ob das nur auf dem sprichwört­lichen Papier steht oder schon in den Köpfen angekommen ist.

„Faxmitteil­ungen zu mailen, ist keine Digitalisi­erung“

Thomas Heilmann

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